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Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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Als er mich sah, wurde er rot, wie ein Kind, das etwas ausgefressen hat, und irgendjemand sagte leise zu mir: »Er hat sich gar nicht umbringen wollen, sonst hätte er Ihnen nicht Bescheid gesagt.«
    »Dann schneiden Sie sich doch selbst einmal die Pulsadern auf, versuchsweise.«
    »Er wollte die Aufmerksamkeit auf sich lenken, das denken wir alle.«
    »Das ist absurd!«
    »Dichter sind alle absurd. Wenn sich jemand nicht um das Werk und die Existenzform von so einem Dichter kümmert, dann ist Selbstmord der einzige Weg, wie er auf sich aufmerksam machen kann, genau wie Gu Cheng und Haizi.« [44]
    »Aber die beiden sind tot.«
    »Notgedrungen. Nur ein Verrückter verkündet zwischen den Zeilen unverdrossen, er wolle sterben. Wenn jemand wirklich sterben will, dann kann man ihn nicht retten.«
    »Das ist mir alles viel zu poetisierend, in Wirklichkeit ist der Tod ganz anders!« Und ich erzählte ihm die Geschichte über meinen Selbstmordversuch im Gefängnis.
    »Alle haben zugesehen, wie ich mir den Kopf angeschlagen habe, und dabei gemeckert, das sei nicht die richtige Stelle; dass ich dann am Leben geblieben bin, haben alle bedauert.«
    »
Das
ist absurd!«
    »Überhaupt nicht. Das Leben und der Tod sind Privatsache, niemand kümmert sich wirklich um einen. Ich bin schon über drei Jahre wieder draußen, aber ich habe immer noch das Gefühl, im Knast zu sitzen. Ein Gefangener, der seine Zeit durchhalten will, muss das Leben sehr lieben und lebensgefährliche Gedanken einen um den anderen überwinden.«
     
    Der saure Regen war endlos. Die sonnigen Augenblicke waren kurz. Als der Hochsommer sich einstellte, hatte das Hochwasser des Tai-Sees in der Provinz Anhui bereits zu einer Katastrophe geführt. Die Leute flohen aus den unter Wasser stehenden Gebieten auf die Deiche, darunter auch die Insassen einer ganzen Haftanstalt – aus der Zeitung wusste ich, dass es die Gefangenen tief beeindruckte, dass das Land angesichts von Problemen im Inneren und Aggressionen aus dem Ausland sich noch immer das Essen vom Mund absparte, um uns gesellschaftlichen Abschaum zu füttern. Deshalb und um ihre Reue und Dankbarkeit zu zeigen, war es ein Muss, den Gürtel ein wenig enger zu schnallen.
    Die Reisration wurde nach und nach herabgesetzt, als Gemüse gab es die eintönige alte Kürbissuppe; Fleisch hatten sie schon seit ein paar Monaten nicht mehr verkauft. Jede Woche gab es nur zweimal Fleisch oder Fisch, das war alles an Fett, was wir bekamen. Weißgebratenes Fleisch mit Lotos oder Kochfleisch mit Bambussprossen.
    Meine Methode, meine Fleischration zu genießen, erfreute sich einer weiten Verbreitung: Zunächst putzte man Reis und Gemüse weg, dass die Erde nur so bebte, dann spülte man sich den Mund aus, schluckte das Ganze herunter und machte die Stäbchen sauber. Am Ende erst nahm man in bester Laune die zuvor herausgesiebten Fleischkörnchen zwischen die Finger, steckte sich eins davon in den Mund, wie eine alte Frau sich ein Bonbon in den welken Mund schiebt und knackt und knuspert. Wenn sich ein Körnchen auf diese Weise aufgelöst hat, tut man sich das nächste hinein, und wenn die Mundhöhle sich dreht, kann auch die Nase nicht untätig bleiben, sie zieht sich kraus, befördert das Fleischaroma nach oben, so dass es sich über das ganze Gesicht ausbreitet.
    Ich hatte aufgehört zu trainieren und hatte auch meine abendlichen Spaziergänge im Kreis herum aufgegeben. Ich saß Schulter an Schulter mit dem guten Xie, mit ausdruckslosen Augen, wie ein ausgegrabenes Kulturdenkmal. Die Fressnäpfe wurden gegen kleinere ausgetauscht, jeder bekam nicht einmal mehr hundert Gramm. Ich mahnte den alten Xie, ganz gleich wie, auf jeden Fall die Kürbissuppe herunterzuschütten, er erstarrte. Dann brachte ich das Gestell, mit dem man den giftigen Schnaps ausgoss, ich wollte mit gutem Beispiel vorangehen, aber ich konnte es nicht verhindern, dass es mir wieder hochkam. Ich hustete, und der Große Drache neben uns machte sich lustig: »Das Mäulchen von Konterrevolution ist schwarz wie ein Arschlöchelchen.«
    Als ich wieder zu Atem kam, hatte sich der gute Xie bereits eine knappe halbe Schale von der klaren Brühe hineingezwungen: »Erst einen Mund voll Reis in den Magen gedrückt, dann zwei Schluck Brühe, der Mensch braucht Salz.«
    Wang Er tröstete ihn: »Gerade habe ich Bruder Koch gefragt, warum wir kleinere Fressnäpfe bekommen haben. Er sagt, es gäbe was Gutes heute Abend.«
     
    Dieses geheimnisvolle und aufmunternde

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