Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
Vom Netzwerk:
lebenslänglich und einmal zu fünfzehn Jahren verurteilt wurden. Als man ihm am Abend des gleichen Tages die Fesseln anlegte, habe ich ihn gewaschen, ihm Hemd und Hose gewechselt und ihn gefüttert. Wie eine Holzpuppe ließ er alles mit sich machen, und in seinem Blick war ein Leuchten, bis es dunkel wurde.
    »Zieh die Fußfessel etwas straffer«, wies ich ihn an. Mit beiden Händen zog ich das Fesseltuch durch, bei jedem Ruck gab es einen heftigen Windstoß. »In drei Tagen ist da kein Fleckchen Rost mehr dran, dann glänzt jedes Kettenglied.«
    Mein Oberkörper war nackt, aber ich schwitzte, als sei ich in einen Regenschauer geraten. Wang Xiaoyue starrte mich an, seine Muskeln waren hart wie Stein. Plötzlich sagte er mit einem Lächeln: »099, du bist so gut zu mir, ich habe gar nichts, womit ich dir danken könnte, deshalb habe ich ein Gedicht auswendig gelernt, um dir die Zeit zu vertreiben.«
    »Du kannst ein Gedicht?« Ich hob nicht den Kopf.
    »Ich habe früher japanische Haikus gemocht, in denen wird der Tod sehr schön beschrieben, sehr gleichgültig, ich hatte die größte Hochachtung vor vielen verzweifelten Mitgliedern der Tongmenghui, die damals im Exil in Japan lebten. Gerade eben sind mir auf einmal ein paar Gedichtzeilen durch den Kopf gegangen.« [53]
    »Die große Fessel hier ist schon ein paar Jahre nicht mehr benutzt worden«, murmelte ich, »die ist völlig verrostet.«
    »Welch ein Glück
    Welch eine Erholung
    Welch ein Segen
    ein seltenes Vergessen.«
    Ich hob jäh den Kopf, schaute zu seinen Augen auf, die voller Lachfalten waren – aber sein Blick lächelte nicht, er bohrte sich in meine Brust, ein schauriges Gefühl.
    »Gutes Gedicht«, sagte ich keuchend.
     
    Ich hatte für Wang Xiaoyue seine Berufung geschrieben und seine Briefe nach Hause, und jetzt begann ich, ihn durch die ihm noch verbleibende Zeit zu begleiten. In der Zelle waren insgesamt drei Todeskandidaten. Wie es Usus war, kümmerte ich mich um Xiaoyues Kleidung, Verpflegung und die tägliche Routine, danach brachten wir zu zweit meine Arbeit zu Ende. Wang Xiaoyue spielte mit dem alten Wang bei der Arbeit gerne Blindenschach, in den leeren Wänden konnte eine solche Partie einen halben Tag dauern. Der alte Wang war ein ungewöhnlich guter Spieler, und jedes Mal, wenn er gewann, musste er etwas über den Wind der Umerziehung durch Arbeit erzählen, um die Stimmung zu beruhigen.
    »Die Fernsehantennen bei der Umerziehung durch Arbeit sind zehn Meter hoch; wenn der Frühlingswind stürmisch war und wir jeden Abend kollektiv fernsahen, mussten wir jedes Mal zwei große Kerle auf das Dach schicken, um den Antennenmast festzuhalten; und dann war da noch ein Verbindungsmann, der an der Tür stand. Sobald der Bildschirm verschwommen war, brüllten wir unisono, und der an der Tür rannte hin und her, um das weiterzugeben: ›Ein bisschen nach rechts, noch weiter nach rechts, nach links, ein wenig nach hinten!‹ Und die beiden auf dem Dach plagten sich ab, um zu tun, was ihnen gesagt wurde, wobei es ihnen die Hemden blähte wie Segelbooten. Einmal hat der Wind einen von den Füßen geholt, der Drecksack ist vom Dach gefallen und hat sich den Steiß gebrochen, aber er hatte Glück im Unglück, er kam auf Kaution raus.«
    Wang Xiaoyue sagte laut lachend: »Wenn ich mir jetzt den Steiß breche, richten sie mich dann nicht hin?«
    Der alte Wang sagte: »Wenn das ginge, würde ich mir lieber eine Hand und ein Bein brechen. Manch einer hat im Untersuchungsgefängnis Natronlauge geschluckt und sich die Speiseröhre verätzt, alles umsonst.«
    Wang Xiaoyue sagte: »Dann werde ich einfach vorausgehen müssen und auf dem Weg zur Gelben Quelle warten, bis du für eine Partie Blindenschach vorbeischaust.«
    Der alte Wang sagte: »Ich weiß gar nicht, gibt es in der Unterwelt Lager zur Umerziehung durch Arbeit?«
    »Gibt es«, redete ich dazwischen, »und ein Fackelfest der völkischen Minderheit der Yi. Ein paar Leute kochen und schneiden Fleisch unter freiem Himmel. Vorne werden Schweineinnereien im Bach gewaschen, hinten werden sie über eine Menschenkette in den Topf geworfen.«
    Wang Xiaoyue sagte: »Und eine A-Mizi, die man freien kann, für ein Paar Gummischuhe, ein Schuh für einmal.«
    Der alte Wang sagte mit roten Gesicht: »Habt ihr euch das alles gut gemerkt? Ach, gute Tage kehren nie wieder.«
     
    Das glänzende Sonnenlicht schnitt einem in die Haut wie mit einem Messer, aber ich hielt an meinem täglichen Lauftraining auf der

Weitere Kostenlose Bücher