Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
Vom Netzwerk:
Stelle fest. Wang Xiaoyue machte neben mir mit und führte einen Springtanz mit Fesseln auf. Auf unser beider Körper spross ein weißer Flaum.
    »Die Leute fangen an zu schimmeln!«, rief ich, »Bewegung desinfiziert.«
    Wenn ich den Kopf hob, flog der Schweiß durch die Gegend; wenn man eine Kelle Wasser an die Wand spritzte, zischte weißer Dampf auf. Die heißen Wogen, die der Deckenventilator aufrührte, machte aus dem Gefängnis eine Wüste, der Wind tat den Menschen körperlich weh, unentwegt fiel einer der Gefangenen um und wurde aufgehoben und in ein Feuchtgebiet geworfen. Der alte Wang schrie mir zu: »Du bist der eiserne Wang Jinxi!« [54]
    Ich lief schon eine halbe Stunde auf der Stelle, Wang Xiaoyues Lippen wurden schwarz, er stützte sich an der Wand ab, um zu sich zu kommen. Ich blieb auf der Stelle stehen und flößte ihm Zuckerwasser ein, da fing doch der kleine Kerl auf einmal an, ein Lied aus den Bergen zu singen! Er hatte die hässlichste Stimme, die ich je gehört habe, blaue Adern schlängelten sich an seinem Hals und sprangen vor. Bei dem Wort »Schwesterchen« fügte er jedes Mal ungeschickt ein »Au, Au« hinzu, es klang, als habe er Schmerzen beim Stuhlgang, als werde ein Schwein geschlachtet, als heule ein Wolf. Die Meute hielt sich die Ohren zu, der Wachsoldat rannte herbei und legte auf ihn an.
    Wang Xiaoyue leckte sich ärgerlich die Unterlippe, als hätte er gerne weitergemacht. Ich verstand, dass er sich Luft machen musste, also raunte ich ihm zu: »Die Bindungen zur Welt sind nicht vollendet.«
    Wang Xiaoyue sagte: »Die großen Dinge habe ich durchschaut, aber über die kleinen Türschwellen komme ich nicht hinüber. Vor Gericht hatte der alte Ji die komplette Schuld auf sich genommen, damals sagte er: ›Wang Xiaoyue ist ein ungehobelter Kerl, er hat keine Bildung, er versteht nichts von Demokratie, Menschenrechten, Programmen und dergleichen. Er ist noch nicht einmal der Stock in meiner Hand, wenn ich nach Osten schlage, ist er nicht in der Lage, nach Westen zu schlagen.‹ Ich habe geschäumt vor Wut. Ich habe mit dem Finger auf ihn gezeigt und geschrien: ›Du, alter Ji, du solltest meine Menschenwürde nicht mit Füßen treten, und schon gar nicht vor unseren Feinden! Wang Xiaoyue mag ein ungehobelter Kerl sein, aber was er nicht richtig begreift, das kann er halt nicht machen! Ich habe die Leute umgebracht, ich habe die Motorräder geklaut, selbst das Schießen musste ich dir beibringen.‹ Der alte Ji stampfte gereizt mit dem Fuß auf: ›Wang Xiaoyue, Wang Xiaoyue! Du Dummkopf!‹ Ich sagte: ›Ich bin überhaupt kein Dummkopf, ein richtiger Mann ist zwischen Himmel und Erde geboren und legt Wert darauf, dass sein Kommen und Gehen sauber ist.‹ Der alte Ji hielt das nicht aus und fing an zu jammern: ›Was für einen Scheißsinn hat denn der Tod? Niemand wird sich jemals an uns erinnern. Wenn einer lebt, dann ist das eine Hoffnung.‹«
    Ich sagte abwesend: »Das stimmt, wenn man weiterlebt, hat man Hoffnung.«
    »Das ist das Leben«, schluchzte Wang Xiaoyue, »ich komme über die kleinen Schwellen nicht hinweg.«
    »Ich werde über dich schreiben, das ist ein Versprechen. Ich will wahrheitsgemäß über dich schreiben.«
     
    In meinen Schriften ist mein Beruf längst nicht mehr der des Dichters, ich kann auf keinen Fall zu diesem Traum zurückkehren, er ist gestorben, aber Tage ohne Traum sind profan, trivial, pragmatisch, das Leben eines alten Roboters, der vor der Gesellschaft kapituliert hat.
    Ständig tauchen neue, avantgardistische Digitalschriftsteller auf, das ist eine gigantische Befreiung der Produktivität der Kultur. Aber ich habe bis heute aus der Feder keines chinesischen Schriftstellers irgendetwas gelesen, das mich mehr erschüttert hätte als die Realität.
     
    Einmal habe ich mit Wang Xiaoyue zusammen, Kopf nach oben, den Film »Sobibor« [55] gesehen, der Bildschirm war ziemlich verschwommen, wir hatten auch keine Papierbrillen bekommen, aber wir haben doch mit Hilfe unserer »Handbrillen« und der »Übersetzung« von Xiaoyue den folgenden Plot verstanden:
    Der Ausbruch aus dem Lager schlägt fehl, die deutschen Verbrecher lassen ein paar Dutzend Ausbrecher aus ihren Landsleuten jeweils einen auswählen, der mit ihnen sterben muss, die Masse Menschen flutet langsam davon, die Männer drängen sich nach vorn, sie drängen Konkurrenten mit der Schulter ab, die Frauen und die Kinder werden vollkommen in den Hintergrund gedrängt … nachdem die Auswahl

Weitere Kostenlose Bücher