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Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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Drohungen, das Wedeln mit den Waffen, alle blieben unbeugsam, selbst wenn man ihnen die Arme aus den Gelenken kugelte. Die Wachhabenden waren im ersten Stock, unsere vielstimmigen Rufe hallten von den Wolken zurück, sie würden sich nicht ewig taub stellen können.
    Die Lage verschlechterte sich zusehends, als der Politkommissar des Gefängnisses auf der Bildfläche erschien, die verfahrene Situation in Ordnung brachte und die Genossen aus der Einzelhaft entließ. Aber wir gaben immer noch nicht klein bei, wir streikten weiter und verlangten eine erneute Untersuchung des Falles, um die Wahrheit ans Licht zu bringen. Die Regierung war ratlos und rief die Mitglieder des Streikkomitees einzeln zu sich, als Letzten den Gefangenen, der die längste Erfahrung im Gefängnisbetrieb hatte, der Gesundheitsbeauftragte der zweiten Produktionsbrigade, den alten Yang.
     
    Wer im Gefängnis einen Aufstand provozierte, musste den Gefängnisvorschriften zufolge mindestens 15 Tage in Arrest; wenn jemand ernsthaft verletzt worden war, hing die Schwere der Strafe von der Schwere der Verletzung ab. Aber die Gefängnisverwaltung zögerte immer wieder, ob es nicht besser wäre, Milde walten zu lassen und dem Rädelsführer Jiang einen Verweis zu erteilen und ihm Umerziehungspunkte abzuziehen, die andern zu belehren und ihnen ebenfalls Umerziehungspunkte abzuziehen.
    Wie auch immer, es war ein Sieg. Obwohl wir alle für diesen symbolischen Sieg einen schmerzhaften Preis zu zahlen hatten. Nicht lange vor meiner Entlassung ließ die Regierung unseren Leuten gegenüber die Maske der Beschwichtigung fallen, nach einer jähen Razzia wurde die ganze Truppe in Einzelteile zerschlagen und die Gemeinschaft der Konterrevolutionäre von ’89, die bis dahin bestanden hatte, öffentlich für aufgelöst erklärt.
    »Das ist alles, weil du dieses Gemeinschaftsfoto von uns ins Ausland weitergegeben hast«, sagte Li Bifeng, gleich nach seiner Entlassung, »wie es heißt, war es auf der Innenseite des Deckblatts der amerikanischen Newsweek und auf dem Titelblatt der Hongkonger Zeitschrift Qianshao. Sechs politische Gefangene in Sträflingskleidung, die Hände auf dem Rücken, die sehen aus wie Mitglieder der Militärakademie im Widerstand gegen Japan.«
    »Tut mir leid, dass ich euch da mit hineingezogen habe!«, sagte ich, ich hatte ein schlechtes Gewissen.
    »An dem Abend damals ist auf einmal eine ziemliche Truppe bei uns eingefallen, wir wurden einer nach dem anderen durchsucht, selbst die Schuhsohlen wurden abgetrennt und begutachtet. Aber der Schwerpunkt lag in der Aushändigung von Fotos, am zweitwichtigsten waren Bücher und Briefe und alles, auf dem etwas geschrieben stand. Am Anfang waren wir alle ganz konfus und wussten nicht, wer auffliegen würde. Anschließend wurden wir aus den einzelnen Arbeitsgruppen aussortiert und in der gleichen Nacht noch auf alle Produktionsbrigaden verteilt, nur der alte Lei rührte sich nicht von der Stelle. Es war noch keine Stunde vergangen, und wir waren geplatzt wie die Seifenblasen und verschwanden im großen Strom der normalen Strafgefangenen.«
    »Haben nicht alle auf mich geflucht?«
    »Dass die Lage wieder schwieriger war, konnte man noch tolerieren, nicht tolerieren konnten wir, dass wir im Knast saßen und von den Menschen vergessen wurden, dass man uns mit dem Hintern nicht mehr ansah. Aber es ist dir zu verdanken, Bartgesicht, dass sie uns im Ausland durch das Foto wenigstens in Ansätzen zur Kenntnis genommen haben.«
     
    »Und der alte Yang?«, dachte ich bei mir, »den werden sie für immer vergraben haben, im Augenblick kann ich mich nicht einmal mehr an seinen Vornamen erinnern, dabei hat er einmal ausgesprochen real existiert. Für diese Existenz, um die es im Lauf der Zeit dunkel geworden ist, zu seinen Ehren werde ich eine Biographie schreiben, für eine namenlose Seele, die einmal geleuchtet hat in einem Gefängnis der Tyrannen.«
    »Dir fehlt das Material«, machte mich eine Stimme aufmerksam, »er hat doch selbst nichts erzählt, der Hass auf sein Land ist ihm im Munde verfault, er hat ihn heruntergeschluckt. Es war Bestimmung, dass zwischen den Konterrevolutionären von ’89 und den früheren, die wie Kohleschichten durch die Jahre zusammengepresst und verändert wurden, keine Kommunikation möglich war.«
    »Ich habe einmal unfreiwillig mit angesehen, wie er über einer Alkoholfunzel Fleisch ausließ«, sagte ich zu der Stimme, »ich wusste, dass der Alte das über viele Jahre getan und

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