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Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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nach
    rundherum alles geschmückt mit Sternglanz
    was ist das für ein
    großer, romantischer Heimatbrief
    Und doch kann ich das alles nicht ausschneiden und jemandem schicken
    1. März 1992

Vor Gericht
    Ich stehe vor dem Elektrogitter und warte
    pünktlich geht die Knasttür auf, ich sehe
    das Rückgrat des Gefängnisses
    auf ihm geht eine noch größere Tür auf
    wie eine Wunde, die sich nie schließt
    Gerichtspolizei strömt aus der Wunde
    mit Pistolen, Handschellen, Elektroknüppeln
    der Gefangenenwagen hält in der Schlucht, draußen vor den Menschenfleischspeichern
    beide Hände auf den Rücken gefesselt gehe ich die Treppe hinunter
    das ist der Augenblick, von dem jeder Gefangene träumt
    ich erinnere mich an grünes Moos auf den Stufen
    Auch der Himmel ist grün, es hat gerade geregnet
    durch einen Oleanderbusch
    sticht die Sonne wie die Nase eines Fuchses
    vereinzelt fallen aus dem Wolkenriss ein paar Tropfen
    ich muss diese Tropfen
    zu einem Schlüssel machen, der mir die Fesseln aufschließt
    Wie angenehm es sein muss, die Arme frei bewegen zu dürfen
    Die Arme eines politischen Gefangenen sollten weniger straff gefesselt sein als die eines Kriminellen
    Wegen dieser demütigenden Behandlung
    sage ich vor Beginn der Verhandlung
    zum Gerichtpolizisten, ich muss pinkeln
    ich bleibe neben dem Pissbecken stehen, ziehe die Blase zusammen
    und teile so den Strahl in viele kleine Abschnitte
    ich bummele, will nicht zurück
    der Kreis der Gerichtspolizisten hinter mir
    wird immer kleiner
    diese vollbewaffneten Bestien fangen schließlich an zu brüllen
    Ich stopfe mein tropfendes Gerät mit großem Bedauern
    in die Hose zurück, die Hände werden wieder auf den Rücken gefesselt
    es ist ein feuchter Morgen
    der für die Öffentlichkeit nicht zugängliche große Gerichtshof ist ein
    mehrere Stockwerke hoher Hosenladen
    voller verschämt leerer Stühle
    wie Tausende Mäuler stellen sie
    undeutliche Fragen
    als Angeklagter
    kann ich so viele Fragen nicht beantworten
    Die Blicke der Richter gehen über mich hinweg
    eine Ewigkeit richten sie sich auf
    die leeren Stühle, die sich in der Ferne überschneiden
    während ich nur
    Vorderzähne sehe, Symbole des Gesetzes, und
    die Eckzähne und das Zähneknirschen daneben
    ich werde ein paarmal durchgekaut
    während der alte, zahnlose Gott in seinem Himmel
    die ganze Menschheit hin und her käut
    Ich habe zu lange gesessen, ich hatte fast vergessen
    dass die Indizien meiner Schuld Gedichte waren
    ein Instinkt, den ich aus dem Mutterleib habe
    nein, nein, ich will die Hand heben, zurückweisen
    aber ich habe keine Hand
    Ich rieche an den Beweisen
    die Gerichtpolizisten lassen Seite um Seite flattern
    ein endloses Meer
    Ein vom eigenen Meer verschlungenes Leben
    Man wird es nicht mehr bergen können
    meine Skripte
    werden für immer in den Gerichtsakten existieren
    Die Geschichte, das endlose Meer
    begraben in den Aktenspeichern des Staates
    bis eines Tages das Ganze aus irgendeinem Grund
    geordnet oder beseitigt wird
    Ich werde beseitigt vor
    dieser leeren Bühne
    ohne Publikum, ohne Zeugen
    ohne Angehörige
    Der Anwalt rechtfertigt selbstgefällig
    die völlig zwecklosen Weisheitszähne
    die mir so viel Schmerzen bereiten
    Ob ein Mordfall
    diesem Volk auch nicht mehr ist
    als ein bisschen Zahnweh?
    19. Mai 1992

Audienz
    An diesem Nachmittag war die Sonne schön hell
    über dem Land kam ein leichter Wind auf
    ich wurde aus einem Haufen Glatzen
    geholt
    ging mit dem Wärter über den Sportplatz
    die Leute, die vor dem Knasttor warteten
    waren wie vom Himmel gefallene Krähen
    Freie Krähen
    ich hatte zwei Jahre keine Krähen gesehen
    als ich das dachte, fing die Menge an
    zu lärmen
    die lauteste Stimme hatte Zhong Zhong
    ein Krüppel, ein Gangster, der Romane schreibt
    die Körperhaltung, schief, als wolle er ein Pferd besteigen
    würde ich noch im Schlaf erkennen
    A Xia, meine Frau, wuchs über seine Schulter
    von hier gesehen
    sahen sie aus wie ein Monster mit zwei Köpfen
    Lachen und Tränen waren kaum zu vermeiden
    was sie bedeuteten, war schwer zu sagen
    also wurde wenig geredet
    Genossin A Xia überwand mutig
    Taiheng, Xiaogou und Zhong Zhong
    und den in der Sonne schwitzenden dicken Liangping
    sie stand vor mir
    die Haltelinie der Polizei unter den Füßen
    Eheleute, die einander anstarrten
    wie die Botschafter verfeindeter Staaten, die Stimmung war schwierig
    »Das ist Miaomiao«, sagte sie
    Das war das Gefängnis, ich durfte nicht
    näher kommen
    sie zog sich

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