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Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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Ende jedoch erreichst du nicht mehr
    was einst Seelenland war
    Ein durchdachter Ausbruchsplan
    wird im Mutterleib geschmiedet
    Die Nabelschnur des Leids geht durch den Himmel
    Der Wind beschnüffelt sich selbst mit Hundeschnauzen
    die Sonne, Restglut von Schmied Zhang, dem Rebellen [71]
    ist sie Teil dieses Winds?
    Wenn das alles in die Dämmerung geht
    wachsen unter dem Grund
    Ausbrecher, zu Tode Gejagte schon immer
    opfern, was in den Fußsohlen blühte
    als Blutblasenstrauß
    3. Oktober 1990

Alter Traum
    Generationen von Kindern träumten den alten Traum vom Soldatsein
    Dieses Blut mit dem Gewehr in den Händen
    rinnt und rinnt
    Rinnt
    das Gewehr meiner Kindheit hat das Schicksal
    getauscht gegen Stifte
    Gewehre müssen Stifte vernichten
    so wie ich jetzt
    neben der Treppe hocke
    der Regierung mir befiehlt, den Hundekopf zu heben
    zum Elektroknüppel zwischen seinen Beinen
    Die sengende Sonne geht auf und unter auf seinen Wink
    der Himmel, ein Schädel, der, wenn er blüht
    voll ist von Hirnmasse
    Wertvolle, brillante Hirnmasse
    wie ein paar Stilformen von mir aus den 80ern
    die die Massen bombardierten
    Glück gehabt, ich bin kein Vieh geworden
    doch als ich klein war, wollte ich das so gern sein
    ein Vieh unter Waffen
    9. Januar 1991

Yawei ist weg
    Yawei ist weg
    dicht hinter den fünf Mitangeklagten
    das schwarze Arschloch des Gefängnisses hat ihn rausgedrückt
    Die Regeln des Gesetzes sind verschlungener als der Verdauungsapparat
    einer Kuh, es scheint kein Ende zu nehmen
    diese fünf Fadenwürmer gingen durch
    den Wiederkäuermagen
    durch Dünndarm und Dickdarm
    Leib und Seele von pastösen Körperflüssigkeiten und Pestiziden
    zerfressen
    »Durchhalten bis zum Schluss«, keuchte Yawei auf der anderen Seite der Wand
    »Bartgesicht, ich kann nicht bei dir bleiben!«
    Ich bin der Hauptverbrecher, der rüdeste von den sechs
    Spulwürmern
    ich muss weiter warten. Das Urteil steht fest
    es ist ein kalter Regentag
    Yawei ist weg
    verschwunden mit den Polizisten, die ihn begleiten, hinter dem Regenvorhang
    das Boot hält an den Kais Richtung Himmel
    von Chongqing nach Youyang
    zwei Tage und eine Nacht zu Lande und zu Wasser
    während das Herz des Vagabunden
    für immer da oben bleibt
    ein Boot am Himmel, ein Boot
    das einmal unser gemeinsames Zuhause war
    Werden wir uns wiedersehen an dem kleinen Laden für Hühnerfedern?
    Immer muss klar sein, wann und wo
    allein mit ein paar stinkenden Fußspuren
    sag mir, wie soll ich dich da suchen
    nachher auf dem Rückweg?
    Gründe eine Familie, starte eine Karriere
    mach draußen nicht in der Gegend herum
    ein festes Türschild
    ein festes Bett. Die zweite Hälfte des Lebens
    Familie, Unterhalt, ein anderer Strick
    Wenn es dir den Atem nimmt, denk an das Gefängnis
    denk an die Tage, als die sechs Schmarotzer Nachbarn waren
    durch die Wand ihre Fürze knallen hörten
    das Wetter war wie ein feuchter Hosenboden
    und ich durch den dünnen Stoff
    die Hämorrhoiden der Sonne bluten sah
    Ich wollte meinen Stift in dieses Blut tauchen
    einen Blutbrief schreiben. Mein Frau, mein Kind sollen wissen
    dass das Urteil bald fällt
    ich will nach Hause
    Aber ich habe Yawei eine mündliche Botschaft mitgegeben
    seine Glatze ist eine viel lebendigere Botschaft
    als alles, was er sagen kann
    mein Töchterlein, das seinen Vater noch nie gesehen hat
    soll sich schon einmal vertraut machen mit der Fresse eines Poesiesträflings
    Zu Hause, ach, Yawei, zu Hause
    du hast alles mitgenommen, was diesen Namen trug
    4. März 1992

Falscher Brief
    Wenn ich keinen Stift habe, denke ich an einen Stift
    an die depressiven Tage zu Hause, als ich Briefe schrieb
    die Stifte auf dem Tisch lagen, kreuz und quer
    wie der Kahlschlag in Afrika
    Die Gewohnheit der Kindheit, alles vollzuschmieren
    dehnte sich aus, wurde zum Lebensunterhalt
    zum schlimmen Geschick
    er hat Frau und Kind im Stich gelassen und ging in den Knast
    eine andere Form der Rumtreiberei
    die Beine aus den Augäpfeln gestreckt
    dann ein Wind ohne festen Wohnsitz
    wie ein Schuster durch die Gitter gesteckt
    Die Schuhe meiner Seele
    müssten längst ausgebessert werden
    sie sind schon zu viel herumgelaufen
    schickten in einem kleinen Ort am Unterlauf des Yangzi
    Briefe an das Fleisch
    Ist morgen Brieftag?
    Der Gott oder die Wärter werden ihn ansetzen
    Sie werden außerdem ansetzen
    das Urteil, die Tränen
    den tödlichen Stockhieb
    oder tausend gleichförmige Geschichten aus der Umerziehung
    Der Wachsoldat hebt ab
    er setzt dem Mond

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