Für hier oder zum Mitnehmen?
wieder alle. Milena, kannst du mit vorne an die Gäste kommen, und der Chef könnte vielleicht mal eine Abräumrunde drehen. Wir haben fast keine Kaffeelöffel mehr, davon könnte man auch noch absolut mehr einkaufen in deinen Laden.«
Alle tun, wie ihnen geheißen. Magnus’ augenscheinliche Erfahrung versetzt ihn automatisch in die Position des Lenkers.
Im Gastraum sind mehr als die Hälfte der Tische besetzt. Während ich noch schwanke, ob ich Magnus’ eigenmächtiges Verhalten gut oder schlecht finde, erfüllt mich der Anblick der besetzten Tische mit tiefer Freude und vor allem Erleichterung. Den Mitarbeitern einen großen Gestaltungsspielraum und Selbstverantwortung einräumen, das wollte ich doch immer. Ich nehme mir ein Kellnertablett, das eine gummierte Beschichtung trägt, so dass das Geschirr nicht verrutschen kann, und ein feuchtes pinkfarbenes Schwammtuch.
»Kann das schon weg?«, frage ich freundlich die Zwillinge, die an einem der großen Stehtische nah am Fenster sitzen und einen guten Blick auf das zentrale Geschehen haben. Ich würde die beiden gerne zu meinen Stammgästen zählen können, sie gehören doch irgendwie zum Rosenthaler Platz. Und wie man bei der Renaturierung von Industriegebieten die Ansiedelung seltener Vogelarten als gutes Zeichen wertet, so werte ich die Anwesenheit der Zwillinge als Zeichen, dass mein Konzept nicht anbiedernd ist und auch die Ureinwohner anspricht.
»Ja, dit kannste mitnehm, Chef. Da haste dir ja echt ne Krake jeangelt mit dem schicken Schweden, der hat ja mehr als vier Arme!«
Eine der beiden Schwestern fasst mir sanft an den Unterarm, als ich nach ihrem Glas greife. Latte macchiato haben sie offensichtlich getrunken.
»Machste uns nochn kleen Milchschaum für Püppi?«, fragt sie mit verschwörerisch gesenkter Stimme. Der Hund auf ihrem Schoß fährt bei der Erwähnung seines Namens unmittelbar die Zunge aus, hechelt und wedelt mit dem kupierten Schwanz.
Sie deutet mit Daumen und Zeigefinger ungefähr einen halben Zentimeter an. »Am besten einfach n bisschen uffn Unterteller oder so, wa?«
In Prenzlauer Berg fragen Mütter für ihre Babys nach Milchschaum, in Mitte die Ureinwohner für ihre Hunde. Das Selbstbedienungsprinzip wollte ich nie aufweichen, aber für gute Stammgäste muss man auch Prinzipien brechen können. Zudem freut sich der Hund außerordentlich auf seine geschäumte Milch.
»Na klar. Gerne. Kommt sofort.«
Am Tresen ist immer noch was los. Ich trete an die Kaffeemaschine, nehme mir eine Untertasse und schütte ein wenig bereits geschäumte Milch aus der Edelstahlkanne darauf, bis sie fast voll ist, ich will nicht geizig erscheinen.
Auf der Abstellfläche der Kaffeemaschine befinden sich sechs kleine Espressokännchen, sie stehen ein wenig abseits. Die Espressokännchen werden benötigt, um Latte macchiato zuzubereiten. Es ist die einzige Kaffeespezialität, bei der der Espresso am Ende zugefügt wird. Diese sechs Espressokännchen hier sind alle gefüllt, aber keine Latte-macchiato-Bestellung ist in Sicht. Ich frage Milena: »Was hat es denn mit den Kännchen hier auf sich?«
»Ja, da staunst du! Die habe ich vorgekocht! Du siehst ja, was hier los ist. Und wenn der nächste Ansturm kommt, habe ich den Kaffee schon fertig und muss nur noch die Milch machen.«
»Aber der Espresso muss frisch und vor allem warm sein, sonst schmeckt es einfach nicht. Bitte nicht vorkochen, sondern immer frisch zubereiten, die Gäste sehen das doch auch.«
Milena ist gereizt.
»Also, dir kann man es auch nicht recht machen! Was ist jetzt wichtiger: dass die Gäste schnell bedient werden und nicht warten müssen oder dass wir hier die Weltmeisterschaft im Kaffeekochen gewinnen?«
»Es ist beides wichtig.«
Sie schüttelt ungläubig den Kopf.
»Das musst du mir dann wirklich noch mal erklären, ich verstehe hier nichts mehr. Und Milchschaum gehört doch in ein Glas und nicht auf einen Unterteller, oder?« Sie zeigt auf mein Püppigedeck.
»Das wiederum kann ich erklären …«
Ein markerschütternder Schrei aus der Küche unterbricht mich – Shanti!
Milena und ich schauen uns mit offenem Mund an, ich drehe mich um und renne in die Küche, die kinetische Energie lässt Püppis Milch überschwappen, sie landet auf meiner Hose. Ich fluche und stelle die Untertasse in den Speiselift.
In der Küche hält Shanti mit der rechten Hand seinen linken, hocherhobenen Unterarm fest. Heftige Schimpfworte presst er aus seinem schmerzverzerrten Gesicht. Am
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