Für hier oder zum Mitnehmen?
Zeigefinger der linken Hand befindet sich eine klaffende Schnittwunde. Das Blut läuft bis in die Ellenbeuge hinunter.
»Was ist passiert?«, frage ich, während ich nach dem Verbandskasten suche, der hier irgendwo sein muss.
»Der Verbandskasten ist im Regal über der Spülmaschine.« Shanti deutet mit seinem blutenden Finger in die entsprechende Richtung. Wieder stößt er einen Schwall Flüche und Verwünschungen hervor.
»Es ist einfach viel zu viel los hier!« Shanti hat jede Freundlichkeit und jedes spirituelle Einfühlungsvermögen verloren, er klingt hart und vorwurfsvoll. »Wie soll man bei so einem Stress in seiner Mitte bleiben? Wie soll das gehen?«
Ich weiß nicht, welchen Stress Shanti meint. Das Gespenst? Die überforderte Kollegin? Die hysterische Putzfrau? Die gesteigerte Produktion der Speisen?
»Shanti, wir kümmern uns jetzt erst mal um die Wunde, du stehst unter Schock.« Ich versuche ihn zu beruhigen und trete mit Desinfektionsspray und Pflastern an ihn heran.
»Lass mal, leg mal da hin, ich mach das schon selber.« Er ist sichtlich gereizt. Auf dem Herd braten Zwiebeln in der Pfanne. Das Stadium des Andünstens haben sie längst überschritten. Milena dreht die Gasflamme auf Null und die große Küchenabzugshaube auf Fünf.
»Was ist denn passiert?«, erkundige ich mich noch einmal.
»Das Birchermüsli ist schon wieder alle. Ich frage mich, wer das alles gegessen hat. Nun gut, muss ich wohl Birchermüsli nachmachen. Habe ich ja nicht zufällig erst gestern schon gemacht. Dann will da jemand drei Suppen zum Mitnehmen, auch noch kalt! Die Suppe ist aber nun mal schon warm, wie in jedem anderen guten Restaurant auch. Ich frage doch auch nicht nach einem ungebratenen Schnitzel, dafür muss man zum Metzger gehen. Wie soll ich die Suppe kalt machen in so kurzer Zeit? Geht nicht. Magnus findet das unmöglich und meckert rum, dann will ich Zwiebeln dünsten, weil auch die Suppe fast ausverkauft ist. Schneide hier neben der Pfanne, damit es schneller geht, verbrenne mir dabei den Unterarm am Pfannenrand und erschrecke mich dermaßen, dass ich mir gleich darauf auch noch in den Finger säbele. Aber richtig!«
Er hält den Finger in meine Richtung, die Schnittwunde sieht nicht schön aus. Ein dumpfes Gefühl macht sich in meiner Magengrube breit, es erinnert mich an das Gefühl in meiner Kindheit, wenn ich mir vorstellte, dass ich gar nicht auf der Welt wäre. Schwindelig wird mir. An der Spülmaschine suche ich Halt. Dabei berühre ich unabsichtlich den Startknopf und löse einen Spülgang aus.
»Das ist ja wirklich eine unglaubliche Geschichte, das tut mir leid, Shanti. Sollen wir einen Arzt holen? Willst du für heute freinehmen?«
Mit einem Stück Küchenpapier tupft er die Schnittwunde ab und wischt das Blut am Unterarm weg. Aus Schnitt- und Brandverletzungen bestehen die häufigsten Unfälle in der Gastronomie. Das habe ich in meinem Fernlehrgang der Berufsgenossenschaft gelernt, der für Betreiber eines gastronomischen Betriebes Pflicht ist, solange sie keinen eigenen Betriebsarzt einstellen. Dass beide Verletzungsarten auch gleichzeitig auftreten könnten, davon war nicht die Rede. Aber für dieses Café müssen wohl einige Grundregeln der Gastronomie überarbeitet werden, nichts scheint hier so zu sein wie in anderen gastronomischen Unternehmen.
Shanti beruhigt sich langsam. »Soll ich dir mal was sagen? Sorg endlich dafür, dass dieses Gespenst verschwindet, bei dieser Energie hier muss ja alles schieflaufen!«
Milena will ihm helfen, das Pflaster anzubringen, Shanti zieht seinen Arm zurück und schaut Milena böse an, sie zuckt zurück.
»Dann eben nicht! Hoffentlich verblutest du nicht!«, herrscht sie ihn an und stürmt hinaus.
»Shanti, so lass dir doch helfen!« Ich gehe erneut auf ihn zu.
Magnus steckt den Kopf herein.
»Birchermüsli mal absolut fertig?«
Shanti schaut mich an, schaut Magnus an, wird knallrot. Mit einer gekonnten rechten Rückhand schleudert er den Verbandskasten ansatzlos gegen die Wand. Dann stützt er sich auf der Arbeitsplatte ab. Er brüllt so, dass seine Adern und seine Sehnen am Hals sichtbar werden.
»Raus aus meiner Küche! Lasst mich doch einfach alle in Ruhe. Raus! Raus! Raus!«
Er verscheucht uns mit der gesunden Hand, wie man Fliegen verscheucht.
Magnus zieht den Kopf wieder in den Tresen zurück wie eine Schildkröte in ihren Panzer. Ich tue es Milena gleich und leiste Shantis Aufforderung Gehorsam.
Es hat aufgehört zu regnen, eine
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