Für hier oder zum Mitnehmen?
Verbraucherschutzseite im Internet recherchiert. Wir wollen ehrlich zu unseren Gästen sein. Die Kalbsschnitzel hatte Shanti heute morgen auf dem Weg zur Arbeit in der Ackerhalle teuer erstanden. Ich kann schlecht die Mitarbeiter zu penibler Sparsamkeit anhalten und gleichzeitig leichtfertig teures Fleisch wegwerfen, nur weil ich ein bisschen Kopfschmerzen habe.
Aus dem Café gleich wieder hinauszukommen, empfinde ich zudem als erlösende Vorstellung. Milena bin ich in diesem Zustand nicht gewachsen. Wenn Magnus mit Aurinia Arm in Arm in den Laden kommt, muss ich auch nicht unbedingt vor Ort sein, die nachfolgende Berichterstattung genügt mir.
Dieses Gewitter lasse ich vorüberziehen, ich stürze mich lieber auf das Direktmarketing für das Café. Das ist jetzt wichtiger als mein Kater oder die möglichen Konflikte im Team.
Ich lächele Shanti an, er versteht sofort, nimmt feierlich den Stapel mit den Wochenkarten, hält ihn mir hin wie die Bibel in amerikanischen Filmen, auf die man schwören soll, bevor man in den Zeugenstand gerufen wird. Ich nicke ihm zu, fasse mit beiden Händen den Stapel, so dass er nun von insgesamt vier Händen gehalten wird. Shanti wackelt kurz damit, um mir Mut zu machen, schaut mir in die Augen und sagt: »Viel Glück auf deiner Reise.«
Groß ist der Stapel, sicherlich mehr als einhundert Kopien umfasst er. Ich kann heute unmöglich einhundert Büros einen Besuch abstatten.
»Danke«, sage ich bewegt und schreite pflichterfüllt wie ein Soldat, der in die Schlacht geschickt wird, durch den Tresen nach draußen. Ich meine ein leises ›Viel Glück!‹ auch von Milena gehört zu haben, tue das aber als Fehlleistung meiner überforderten und von der letzten Nacht abgewetzten Synapsen ab.
17.
ELSASS-LOTHRINGEN
Z um Auftakt der Direktmarketing-Kampagne will ich in das unter Denkmalschutz stehende Postgebäude auf der Torstraße schräg gegenüber gehen. Im Erdgeschoss ist noch immer eine Filiale der Deutschen Post, aber in den Stockwerken darüber befinden sich Medienunternehmen und Agenturen.
Der Rosenthaler Platz und die Torstraße empfangen mich mit Gebrüll. Polizeisirenen, Presslufthammer, Motorenlärm, Gehupe. Meine Augenlider werden von diesem immensen Schalldruck zitternd nach unten gezogen. Die Torstraße tut immer ein bisschen weh. Sie riecht nach Autoabgasen und Braunkohle. Noch immer sind viele Häuser unsaniert und mit Kohleöfen ausgestattet. Jetzt, in den ersten kühlen Tagen des Jahres, hängt der typische Braunkohlegeruch in der Luft. Muffig und kupfern-metallisch, ein bisschen wie der Geschmack von Penicillinsaft.
Die Torstraße hat viele Leben. Sie bildete lange Zeit die Stadtgrenze Berlins. Stadttore befanden sich auf ihr: Oranienburger Tor, Hamburger Tor, Rosenthaler Tor, Schönhauser Tor und Prenzlauer Tor. Von allen Berliner Stadttoren existiert heute nur noch das Brandenburger Tor.
Der Kaiser hat die Torstraße nach dem Krieg gegen Frankreich umbenannt. Den westlich vom Rosenthaler Platz abgehenden Teil in Elsaßer Straße und den östlichen in Lothringer Straße. Als Zeichen der Besetzung dieser Gebiete nach dem Krieg. Das machte sich gut auf dem Stadtplan. In der Mitte Berlins stand dick und breit: »Elsaß-Lothringen«. Einverleibt, runtergeschluckt in die preußische Machtzentrale, für alle gut sichtbar. Auch eine Form von Below-the-Line-Marketing. Eroberte französische Kanonen hat er vergolden und als Zierde an die Siegessäule im Tiergarten hängen lassen, wo sie sich noch immer befinden. Die Torstraße aber wurde nach dem Zweiten Weltkrieg umbenannt in Wilhelm-Pieck-Straße, nach dem ersten und einzigen Präsidenten der DDR . Mitte der Neunziger erfolgte dann die Rückführung zum schönen Namen Torstraße.
Die Torstraße ist südlich wie nördlich von satten, sanierten und gentrifizierten Gebieten umschlungen, sie selber aber ist nahezu unberührt von diesem Effekt.
Die Torstraße ist eine dicke Vene auf der Hand der alten Diva Berlin, violett hervorstechend unter der schon dünn gewordenen Haut der Hand, die schon so vieles getragen hat, deren Knöchel deutlich hervorstehen. In der Mitte der Vene, dort, wo man die Nadel für eine Infusion ansetzen würde, liegt der Rosenthaler Platz mit dem Café.
Wenn man die Torstraße betrachtet, wird man daran erinnert, dass Berlin bei allem Hype vor allem auch eine heftige und räudige Stadt war und ist, eine Großstadt eben. Vermutlich wird sich die Torstraße auch noch lange gegen die sie umgebenden
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