Für hier oder zum Mitnehmen?
Tresen.
»Das sind zu viele, so groß ist die Firma nicht.«
Sie behält genau ein Blatt und gibt mir die anderen zurück.
Im Treppenhaus des Postgebäudes lehne ich mich an die Wand und erfreue mich der Ruhe und Kühle.
Ich habe gerade mich und meinen Laden verleugnet. Wie kann ich das tun? Ich fühle mich schuldig, auch Corry gegenüber, was soll sie denken, wenn sie irgendwann mitbekommt, dass ich der Betreiber bin? Der Name meines Cafés verrät viel über den Namen seines Besitzers. Den Impuls, noch mal zu klingeln und die Sache aufzuklären, rede ich mir erfolgreich aus. Vielleicht denkt sie nur, dass ich sehr bescheiden bin. Nicht zu einem großen, schlecht laufenden Café zu stehen, hat allerdings mehr mit Scham als mit Bescheidenheit zu tun.
Wäre ich doch nur nicht so verkatert, dann hätte ich womöglich geschickter und vor allem selbstbewusster gehandelt. Wie kann ich in einer so wichtigen Phase meines Lebens dermaßen abstürzen? Die Bestrafung erfolgte bereits im Laufe des Absturzes und wird nun munter fortgeführt.
Ich werde noch ein paar Wochenkarten in Häusern verteilen, in denen nicht die Gefahr besteht, dass mich jemand kennt, und dann schnellstmöglich in einem dunklen, kühlen Raum verschwinden, bis die Gefahr vorüber ist. Wenn ich noch eine weitere Wochenkarte an den Mann bringe, dann darf ich Shanti gegenüber im Plural sprechen, ohne weitere Schuld auf mich zu nehmen. Wütend auf mich selber trete ich auf die Torstraße hinaus, die immer noch brüllt.
Klamotte kommt aus dem Haupteingang der Post, er hat einen Paketeinlieferungsbeleg in der Hand. Sein Postauto steht direkt davor im absoluten Halteverbot – auch er ein Meister der Tarnung und Verstellung, wie ich. Nur ehrenhafter und schlauer fühlt sich seine Tarnung an. Er Postmann, ich Flyerverteiler. Er mustert mich und schaut auf die Wochenspeisekarte in meiner Hand.
»Die rischtisch wichtijen Dinge macht Chefi persönlich, wa?«
Eine Unterhaltung auf der Torstraße erfordert, dass die Teilnehmer sich anschreien oder ihre Münder nah an das Ohr des Gegenübers bringen. Ganz wie im Golden Gate. Postbote und Flyerverteiler wählen die erste Variante.
»Für sone Jeschichten kannste doch ooch een von deinem Personal nehmen. Denn können se ooch mal die Beene bewejen und nich nur in Bauch rinstellen«, brüllt Klamotte mich an.
Daran hatte ich noch gar nicht gedacht. Aber wie kann ich mich darauf verlassen, dass die Wochenkarten auch zuverlässig verteilt werden? Wer sollte das erledigen? Magnus? Die Zwillinge?
»Wat sacht n der Schildermacher? Is det Ding in der Mache?«
Um die Tafel hatte ich mich noch nicht kümmern können. Ich stehe mit Klamotte auf der Torstraße, an einem kühlen, grauen Oktobertag. Menschen strömen in die Post hinein und hinaus. Jemand macht eine abwehrende Geste mir gegenüber, er hat Angst, dass ich ihm einen Flyer in die Hand drücken will.
»Ich habe es noch nicht geschafft, den Schildermacher anzurufen, erledige ich aber gleich, wenn ich wieder im Laden bin.«
Franz Biberkopf könnte genau hier seine vorgebundenen Krawatten verkauft haben. Damals war das eine Weltneuheit. Durch den Krawattenverkauf versuchte er ehrlich zu bleiben. Vielleicht ist es einfach grundsätzlich nicht möglich, in Berlin ehrlich zu bleiben. Die alte Diva zwingt die Menschen zum Tricksen.
»Da war ick jerade. In deim Mäuse-uffm-Tisch-Laden. Ick wees nich, ob ihr dit im Westen ooch jelernt habt, aber bei uns im Osten jibt et nen wichtijen Grundsatz: Keen Fick inne Fabrik.«
»Was hat Milena dir erzählt?«, platzt es aus mir heraus, ich schreie, dabei überschlägt sich meine Stimme ein wenig. Die Wahrheit will ich jetzt endlich wissen. Was ist in der letzten Nacht geschehen?
»Janüscht hatse erzählt. Dit sieht doch n Blinder mitm Krückstock, dit du im ollen Aschinger mehr mitn Personal als mitn Jeschäft beschäfticht bist. Aber jut is dit nich. Dit kannste wissen.«
Aus seinen Gastroerzählungen weiß ich, dass er der Meinung ist, dass nur straffe Hierarchien funktionieren. Meine Ansätze mit selbstverwalteten Schichtplänen, Eigenverantwortung und Einbringung der Mitarbeiter hat er in den letzten Monaten hautnah miterlebt. Auf ihn muss der Laden wirken wie ein besetztes Haus, ohne Türen, keine Grenzen, für niemanden.
»Klamotte, ich weiß doch auch nicht so recht, was ich tun soll. Ich habe das Gefühl, dass der Laden gar nicht mehr mir gehört.«
Am liebsten würde ich Klamotte umarmen und meinen Kopf auf
Weitere Kostenlose Bücher