Für hier oder zum Mitnehmen?
Veränderungen zur Wehr setzen. Zu vierspurig, zu laut ist sie.
Nach einigen Sekunden habe ich mich an den Lärmpegel gewöhnt und fühle mich mit meinem Kater ganz wohl auf der alten Vene. Echte Berliner Toleranz und Anonymität umfließen und durchströmen mich. Die Torstraße ist einer der wenigen Orte in Berlin, an denen man sich verkatert besser fühlt als nüchtern. Das wahre Gesicht, die große Schwingung der Torstraße, kann man nur verkatert erfahren.
Das alte Posthaus schluckt mich, und abrupt wird das Programm umgeschaltet. Gepflegter Treppenaufgang, Schilder mit wohldurchdachten Firmennamen. Ein bisschen lustig und vor allem kreativ.
Ich klingele bei einer Filmproduktion. Räuspere mich. Aufregung macht sich breit, meinen instabilen Kreislauf spüre ich wieder. Mein Puls klopft an die Schläfen. Die Tür wird von einem magnetischen Türöffner freigegeben. Ich trete ein und stehe in einer kleinen Lobby mit Tresen. Alles schön weiß, könnte auch eine gut gestaltete Zahnarztpraxis sein. Hinter dem Tresen erwartet mich eine junge, professionell lächelnde Frau. Dunkles kurzes Haar, bunte Strasssteine in den Ohren, markantes Gesicht, groß und schlank, im perfekten Agenturstyle gekleidet. Schick, aber auch sportlich.
»Ich komme von dem neuen Café hier gegenüber«, sage ich. »Ein sehr schönes Büro habt ihr hier. Wir bieten ab heute Mittagessen an, und ich wollte euch unsere Wochenkarte dalassen.«
Während ich rede, fällt mir Shantis Desinfektionsmittelbemerkung ein, und ich trete ein wenig zurück. Eine Tür geht auf, und jemand ruft etwas zum Tresen, die junge Frau wendet sich dem Rufer zu und nickt. Sie hat mir nach den ersten Worten schon nicht mehr zugehört. Ein wunderbares Gefühl.
»Vielleicht habt ihr ja Lust, uns mal zu testen, ist gar nicht weit weg, nur über die Straße.«
»Bist du das?«, fragt mich die junge Frau auf einmal überrascht, und sofort weiß ich: Ja, das bin ich.
Cordula, genannt Corry, eine ehemalige Mitarbeiterin meiner Werbeagentur, steht vor mir. Was ist los mit mir, warum habe ich sie nicht erkannt? Ich war voll auf meinen Direktmarketing-Feldzug konzentriert und hatte einfach nicht damit gerechnet, sie hier anzutreffen. Wenn man die Kassiererin seines Stammsupermarktes auf der Straße trifft, dann weiß man, dass man sie kennt, weiß aber nicht woher, da das Hintergrundbild ein anderes ist.
»Wie geht es dir? Hast du ein neues Projekt angestoßen? Bist du jetzt Flyerverteiler geworden?« Sie lacht mich an und zieht mich über den Tresen, um mich zu umarmen.
»Gestern aus gewesen?«, fragt sie, immer noch lachend.
Im Laufe unserer Unterhaltung wird deutlich, dass sie und wohl auch niemand sonst in der Agentur bemerkt hat, dass es seit einigen Monaten ein neues Café gibt. Das verwundert mich, denn wenn man aus dem Fenster schaut, blickt man schräg auf die Torstraßen-Seite des Cafés. Diese Erkenntnis schockiert mich, da ich fest davon ausging, ich würde als einzige Neuigkeit die Wochenkarte, nicht aber die Existenz des Cafés auftischen. Andererseits macht es Hoffnung, da es bedeutet, dass in der direkten Nachbarschaft ein großes, unausgeschöpftes Gästepotential vorhanden ist.
»Klingt ja ganz lecker, die Karte hier. Wiener Schnitzel. Mal was anderes am Rosenthaler. Aber du hast mir immer noch nicht verraten, warum du diese Karten austeilst.«
Wenn der Chef persönlich rumlaufen muss und um Gäste bettelt, das sieht doch nicht aus. Gerade in der Medien- und Agenturszene sind Reputation und Image wichtig. Man geht doch nicht in ein Café, das so uncool ist, dass der Chef selber die Flyer verteilen muss. Das Gesetz der kritischen Masse greift hier gnadenlos. Außerdem ist es auch ein Unding zu sagen: ›Ich habe jetzt ein Café‹, das ist ein bisschen wie ›Ich schreibe gerade an einem Roman‹. Zudem schießt mir die Burger-King-Geschichte der letzten Nacht durch den Kopf, so dass ich beschließe, mich im Tarnkappenmodus aus dem Kampfeinsatz zurückzuziehen: »Ein Freund von mir betreibt das Café. Als alter Werbestratege greife ich ihm da ein wenig unter die Arme.«
»Ach, ist das der Laden mit diesen Hochstühlen davor? Ist auch echt nett geworden, der Flyer. Wann starten wir denn noch mal ein Projekt zusammen? Vielleicht gehen wir ja demnächst mal wieder ein Bier trinken?«
Die Erinnerung an dieses Getränk erzeugt Gänsehaut auf meinen Unterarmen.
»Ja … Lass uns mal mailen.«
Ich lege einen ordentlichen Stapel Wochenkarten auf den
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