Für immer am Meer - Henry, V: Für immer am Meer
dahinschmolz, schien das von Mike zu wachsen. Er spürte genau, was Chayenne brauchte, und auf ihn reagierte sie immer positiv. Die beiden wirkten wie zwei Verschwörer und gluckten immer mehr zusammen, je näher der Urlaub rückte.
Als Alison Chayenne mit ans Wasser genommen hatte, um ein bisschen zu planschen, hatte das Mädchen Zeter und Mordio geschrien. Alle hatten sich umgedreht, um zu sehen, was sie dem Kind antat. Bis auf die Knochen blamiert, war Alison so schnell sie konnte mit Chayenne zurück in die Hütte geflüchtet. Mike hatte ihr Vorwürfe gemacht und gemeint, sie hätte dem Kind zu schnell zu viel zugemutet. Alison war fix und fertig und voller Schuldgefühle gewesen, als sie Chayennes bitterliches Schluchzen hörte, und hatte heimlich auf dem Klo ein paar Tränen verdrückt.
Zwei Tage später hatte Chayenne unter Mikes fachkundiger und gefühlvoller Anleitung so viel Spaß am Wasser gefunden, dass sie gar nicht genug davon bekommen konnte und ein Bodyboard haben wollte. Natürlich hatte Mike ihr den Wunsch sofort erfüllt. Heute verbrachten die beiden also den Tag im Meer, ausgerüstet mit Neoprenanzügen und Taucherbrille, während Alison mit einem Fernglas auf der Veranda saß, zusah, wie sie Fortschritte machten, und sich fragte, was sie eigentlich falsch machte.
Ihr war klar, dass das Kind lange brauchen würde, um sich an die neuen Umstände zu gewöhnen. Dass Chayennes Verhaltensmuster tief verwurzelt waren. Dass sich ein misshandeltes, traumatisiertes Kind nicht über Nacht in ein glückliches, unbekümmertes Mädchen verwandeln würde. Aber Alison hatte es sich einfacher vorgestellt, so ein Kind zu lieben. Jahrelang hatte sie sich ein Kind gewünscht, das sie umsorgen konnte. Aber jetzt empfand sie nur Kälte und Groll – und zwar gegenüber ihrer Tochter und ihrem Mann –, und dafür verachtete sie sich.
Die Sozialarbeiterin hatte sie gewarnt, dass es Chayenne schwerfallen könnte, sich auf eine Beziehung zu ihnen einzulassen. Schließlich war sie von ihrer Mutter misshandelt worden, es würde also wahrscheinlich lange dauern, ihr Vertrauen zu gewinnen. Alison sagte sich, dass sie die Erwachsene war, dass sie in der besseren Position war, aber es tat einfach weh, wenn das kleine Mädchen sich von ihr abwandte und die Arme nach Mike ausstreckte. Chayenne lächelte sie nie an, sondern warf ihr nur missmutige oder argwöhnische Blicke zu, die Alison das Gefühl gaben, der letzte Dreck zu sein. Sie hatte wirklich alles versucht: Sie war lustig und ausgelassen gewesen, hatte Chayenne liebevoll bemuttert, hatte sie wie ein Baby, eine Erwachsene, eine Freundin, eine Verbündete behandelt. Sie hatte versucht, Chayennes Liebe mit Shoppingtouren zu erkaufen, von denen sie mit Tüten voller Klamotten und Spielen und DVD s zurückgekehrt waren. Sie hatte es mit Aktivitäten versucht, mit Radtouren, mit Bowling. Sie hatte ihr vorgelesen, aber das war Chayenne überhaupt nicht gewöhnt, und es langweilte sie zu Tode. Außer wenn Mike ihr eine Gute-Nacht-Geschichte vorlas, dann kuschelte sie sich an ihn und hörte ihm wie gebannt zu. Und Alison hatte sich angewöhnt, sich zurückzuziehen. Es tat einfach zu weh. Sie hatte von einem kleinen Mädchen in einem Baumwollnachthemdchen geträumt, das man knuddelte und herzte und liebevoll zudeckte. Stattdessen war sie mit einem feindseligen Monster geschlagen, das nichts von ihr wissen wollte.
»Lass ihr Zeit«, sagte Mike immer wieder, und für ihn war das in Ordnung. Schließlich wurde er für seine Geduld belohnt. Manchmal fragte sich Alison, ob er froh war, dass alles sich so ergeben hatte. Ob er heimlich versuchte, Chayenne gegen sie einzunehmen, als Strafe dafür, dass sie ihm kein eigenes Kind schenken konnte. Natürlich war das völlig abwegig – so ein Mann war Mike überhaupt nicht –, aber der ständige Stress machte sie ganz verrückt. Sie wurde regelrecht paranoid. Es ging so weit, dass sie manchmal dachte, Mike und Chayenne würde es ohne sie viel besser gehen.
Vielleicht war das Ganze ja ein Fehler gewesen. Vielleicht hätte sie, lange bevor die Adoption offiziell gewesen war, einen Rückzieher machen sollen. Als ihr die ersten Zweifel gekommen waren. Zweifel, die sie während des ganzen langen Prozesses erfolgreich unterdrückt hatte, indem sie sich eingeredet hatte, es würde am Ende schon alles gut werden. Dass sie, wenn Chayenne erst offiziell zu ihnen gehörte, schon eine Familie werden würden, und dass sie sie schließlich lieben
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