Für immer, Dein Dad
dieser liebreizenden Kinder, die man in winzigen Parkas und rosafarbenen Schnürschuhen in Modekatalogen sah. Sie war ein schönes Kind. Sogar so schön, dass ich mir eingeredet hatte, dieses kleine Mädchen könne nicht von Mum und Bingo-Mann abstammen. Und wenn Mr. und Mrs. Fotomodell eines Tages mit ihrem Volvo und ihrem Golden Retriever auftauchen würden, um sie zurückzufordern,wären wir alle am Boden zerstört. Dann wäre sie für immer weg. Also hatte ich beschlossen, Abbi niemals
wirklich
zu lieben. Dieses süße, hinreißende Kind niemals in mein Herz zu schließen.
Irgendwie war mir das sehr sinnvoll erschienen … Aber jetzt fand ich mich nur noch kindisch, lächerlich und vor allem grausam.
Wieder lief ich die Orte meiner Kindheit ab. Lanes Fish Bar, den Spielplatz, und die ganze Zeit fürchtete ich, dass etwas Schreckliches geschehen war. Mir war zu spät eingefallen, dass ich Abbi liebte. Zu spät.
Sie war tot.
Zu spät.
Ihr zarter kleiner Körper lag zerschmettert irgendwo in einem Graben.
Zu spät.
Erneut stiegen mir die Tränen in die Augen, dieses Mal erfüllte mich dabei ein überwältigendes Schuldgefühl.
Mit gesenktem Kopf trottete ich wieder zurück. Die Angst vor der Nachricht, sie sei inzwischen tot gefunden worden, war so groß, dass ich mich zwingen musste, die Tür meines Elternhauses aufzuschließen. Sofort hörte ich Mum in der Küche weinen und wappnete mich. Abbi war tot. Sie war weg, genau wie Dad. Und ich musste stark sein.
Ich zog die Tür hinter mir ins Schloss.
Als ich in die Küche kam, standen alle mit dem Rücken zu mir dicht beisammen.
«Lois!», rief meine Mutter, die gehört hatte, dass ich hereingekommen war, und wandte mir ihr verschwollenes, tränenüberströmtes Gesicht zu.
«Mum?»
«Sie ist …»
«Was, Mum?»
«Sie ist wieder da!», schluchzte meine Mutter. Jetzt erst sah ich, dass sie meine zerzauste, aber lebendige kleine Schwester in den Armen hielt.
«Abbi!» Ich rannte auf Mum zu und nahm ihr die Kleine ab. Abbi zog die Augenbrauen hoch. So aufgeregt hatte sie mich noch nie gesehen. Sie zappelte ein bisschen herum, bis ihr jemand den Strickesel gab, dessen Ohr sie augenblicklich in ihr Nasenloch steckte. Vermutlich lachten alle vor Erleichterung und Freude, aber ich bekam davon nichts mit. Ich wollte mich nur in ihren Geruch vergraben, ihr über die Locken streichen, und vor allem wollte ich sie nie mehr loslassen.
Offenbar war Abbi durch ein Loch im Zaun in den Nachbargarten gekrochen, der einem älteren Ehepaar gehörte, das erst vor kurzem eingezogen war. Dann war sie hinter einem Rosenstrauch eingeschlafen und hatte selig geträumt, während wir das halbe Viertel in Aufruhr versetzt hatten.
In diesem Jahr war Abbis Wiederauftauchen das schönste Geburtstagsgeschenk, das ich mir hätte wünschen können. Die Nachricht, die mir Dad zum Geburtstag geschrieben hatte, war sehr einfach:
In den letzten Jahren hast Du viele Veränderungen durchgemacht. Bist erwachsener geworden, gereist (hoffe ich) und hast neue Gefühle kennengelernt. Mach so weiter. Sieh niemals zurück und bleib immer in Bewegung.
Etwas riskieren
Kevin Bates’ Schatztruhe: Hast Du das gewusst? In diesem wahnsinnig heißen Sommer 1976 habe ich beschlossen, einer gewissen jungen Dame eine gewisse Frage zu stellen …
Mum wiederholte immer wieder, wie glücklich sie sei, dass nach dem Vorfall mit Abbi wieder «die Normalität» eingekehrt sei. Aber so war es nicht. Zwischen mir und Abbi hatte sich alles verändert, besser gesagt,
ich
hatte mich ihr gegenüber verändert. Sie war immer noch das laute, lebhafte Mädchen, aber ich fing an, mich auf sie einzulassen, und das gefiel mir erstaunlicherweise sehr gut.
«Happy Birthday!», krähte Abbi und steckte sich das Ohr ihres Esels ins Nasenloch. Ich wischte den letzten fettigen Toastkrümel vom Küchentisch und lächelte über die Mühe, die sich Mum mit meinem Geburtstagsfrühstück gegeben hatte. Sie hatte eine Riesenpfanne voll Eier mit Speck gebraten. Danach hatte es süße Törtchen gegeben (die hatte ich Abbi zu verdanken), und mir wurde ein beeindruckendes Meisterwerk der abstrakten Malerei überreicht (ebenfalls von Abbi). Carla und ich wollten übers Wochenende nach Barcelona, um ihren Vater zu besuchen, die Stadt zu besichtigen und uns vor allem ein bisschen zu erholen. Mein Job war ziemlich anstrengend, und noch dazu musste ich mich ständig über die neuesten Entwicklungen der
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