Für immer, Dein Dad
großer Star wird. Der Mistkerl.» Ihre Stimme klang sehr verletzt.
«Das tut mir wirklich leid für dich …»
«Kann ich dich später nochmal anrufen? Ich muss noch eben diese beschissene Gitarre mit dem Hammer bearbeiten. Ich melde mich wieder, okay?»
Ich lächelte und drückte wieder auf Play. Obwohl mir Carla leidtat, bewies Freds Verhalten nur wieder einmal meine Theorie: Man wurde immer verlassen.
Dann klingelte das Telefon erneut, doch es war nicht Carla, sondern Mum. Sofort wappnete ich mich gegen ihre Vorwürfe, dass ich zu selten zu Besuch käme, vermutlich nicht genug schlief, mich schlecht ernährte und die Wohnung zu selten putzte – aber dieses Mal lag ich mit meinen Vermutungen vollkommen falsch.
«Es geht um deine Schwester.»
«Was ist mit ihr?», stöhnte ich. Vergangenen Monat hatte sie mir am Telefon stundenlang von der herausragenden Intelligenz und den sagenhaften Fähigkeiten ihres Töchterchens vorgeschwärmt. Den Dank für das Puzzle, das ich Abbi zu Weihnachten geschenkt hatte, packte sie in einen Halbsatz. Es war tödlich langweilig und hätte höchstens eine richtige Schwester interessieren können – und ich war nicht Abbis
richtige
Schwester.
«Ich … ich kann es kaum aussprechen …», flüsterte Mum.
«Mum, was ist denn los?» Ich drückte wieder die Pausentaste.
«Sie ist verschwunden. Sie ist verschwunden!»
Sie hatten die Polizei eingeschaltet.
Mum hatte die Kleine zuletzt im Garten hinter dem Haus spielen sehen, während sie das Essen vorbereitete. Dannhatte das Telefon geklingelt, und Mum hatte lange mit einer Freundin gesprochen. Als sie zurückkam, war das Kind verschwunden.
Carlas Mutter und Calvin fuhren mit dem Auto herum, um die Kleine zu suchen, während Carla und ich in der Nachbarschaft umherliefen und ihren Namen riefen. Wir suchten auf dem Spielplatz, in den Hauseingängen. Wir fotokopierten ein Foto, drückten es jedem Passanten in die Hand und legten es in Mr. Tallys Laden und den Telefonhäuschen aus. Wir befragten Passanten nach Hinweisen. Alles blieb ergebnislos. Dann hörte ich, dass die Polizei Nachforschungen in der Nervenheilanstalt an der Hauptstraße anstellte, und weigerte mich, mir vorzustellen, was der Kleinen in den Händen eines Geisteskranken zugestoßen sein könnte.
Eine Stunde verging.
Wir suchten noch einmal dieselben Straßen ab und verständigten uns untereinander per Handy – es war das erste Mal, seit ich es gekauft hatte, dass es mir wirklich zu etwas nütze war.
Zwei Stunden.
Nichts.
Drei Stunden.
Nichts.
Langsam machte sich in mir die schreckliche, unerträgliche Angst breit, dass die Kleine vielleicht nie mehr auftauchen würde. Der Anblick meiner Mutter entsetzte mich noch mehr. Sie verlor vollkommen die Fassung, löste sich in Tränen auf und schluchzte nur noch den Namen ihres süßen Töchterchens. Auch ihr Mann, dem selbst die Angst ins Gesicht geschrieben stand, konnte sie nicht beruhigen. Abbi war ja noch nicht einmal drei Jahre alt. Sie konnte wedersagen, wo sie wohnte, noch allein den Weg nach Hause finden. Und wenn sie verletzt war? Und wenn ihr jemand etwas angetan hatte? Ich versuchte, diese Gedanken aus meinem Kopf zu verbannen, doch es gelang mir nicht. Jeden Tag passierten schlimme Dinge. Menschen starben, verschwanden und kamen
nie mehr
zurück.
Ich zerknüllte die Fotokopie mit ihrem Bild. Ein schneidender Schmerz breitete sich von meinen Zehen bis zu den Haarwurzeln aus. Dann stiegen mir Tränen in die Augen.
Bitte, lass ihr nichts passiert sein
, betete ich.
Lass meiner kleinen Schwester nichts passiert sein. Bitte.
Mir fiel wieder ein, was Dad über Geschwister geschrieben hatte, und in diesem Sommer des Jahres 2000 wurde mir klar, dass ich sie liebte. Ich liebte meine kleine Schwester Abbi. Sie war eine Nervensäge, schrie jedes Mal los, wenn sie nicht ihren Willen bekam, schleppte einen schmuddeligen Strickesel mit sich herum, dessen Ohr sie mit Vorliebe in ihr Nasenloch steckte (und ohne den sie nicht schlafen konnte), und der Rotzfaden, der ihr ständig aus der Nase lief … ekelte mich ehrlich gesagt an. Aber sie war Abbi. Was hatte ich mir nur für einen Unsinn eingeredet, Abbi sei nicht meine Schwester. Natürlich war sie meine Schwester! Sie war die Tochter meiner Mutter. Das gleiche Blut lief durch unsere Adern, genau wie bei meinem Dad und mir, und ich liebte sie. Liebte ihr Lächeln. Ihre zarten runden Wangen. Ihre Ringellocken, ihr hübsches Gesicht. Sie war eins
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