Fuer immer Ella und Micha
öffne den Mund und schreie leise.
»Das kannst du besser«, beharrt Anna. »Schrei richtig, Ella.«
Ich hole tief Luft und schreie mit ganzer Kraft. Es hallt über Meilen.
Nachdem ich den Stau in meiner Brust los bin, gehe ich die Straße zum Cherry Hill hinauf, wo der Friedhof ist. Ich denke an die Menschen, die ich verloren habe. Meine Mom und Grady wurden viel zu früh aus meinem Leben gerissen.
Eine frische Schneeschicht bedeckt die Grabsteine und Bäume. Der Rasen ist unter ihr begraben, und Eiszapfen hängen am Zaun. Auf dem Weg zu dem kahlen Baum vor dem Grab meiner Mutter füllen sich meine Schuhe mit Schnee, und meine Nase wird rot vor Kälte. Ich bücke mich und wische Schnee von ihrer Grabplatte.
Dann lese ich die Worte, die viel zu schlicht sind, um meine Mom zusammenzufassen: »Maralynn Daniels, liebende Mutter und Ehefrau.« Dort steht nichts von ihrem Kampf oder was für beschissene Karten sie vom Schicksal ausgeteilt bekam.
Meine Gedanken schweifen zurück zu einem Gespräch, das sie und ich führten, als ich ungefähr fünfzehn war. Wir sahen fern, obwohl sie dauernd einnickte und nicht aufpasste.
»Was glaubst du, wieso ich so bin?«, fragte sie plötzlich und sah sehr nachdenklich aus.
Ich stellte den Fernseher leiser. »Was meinst du, Mom?«
Sie starrte an die Wand, als stünden dort die Antworten auf das Leben. »Warum kann ich meinen dunklen Gedanken nicht entfliehen wie jeder andere? Warum kann ich nicht genauso denken wie jeder andere?«
Ich zermarterte mir das Hirn nach einer guten Antwort. »Ich glaube nicht, dass jeder gleich denkt, Mom. Jeder ist anders.«
»Schon, aber warum ist es für manche Leute so leicht?« Sie sah mich mit ihren riesigen grünen Augen an, als wäre sie hypnotisiert. »Sie wandern einfach ohne Probleme durchs Leben.«
Es fiel mir schwer, etwas zu sagen, weil ich wusste, wie wichtig meine Worte für sie sein würden. »Alle haben ihre Probleme, Mom. Nur sind die mancher Leute härter.« Ich rückte zu ihr, und die Angst in ihren Augen wurde ein bisschen weniger. »Ich glaube, dass Leute, die mehr durchmachen, am Ende stärker sind. Sie lernen Dinge, die viele andere nie begreifen, und sind klüger. Dadurch können sie offener sein.«
Meine Mom hatte gelächelt, was bei ihr sehr selten vorkam. »Du bist ein kluges Mädchen, Ella May, und ich glaube, dass du später mal Großes vollbringen wirst … Ja, das hoffe ich wirklich.«
Die Knoten in meinem Bauch lösen sich. Ich hatte das Richtige gesagt, und sie war entspannt und glücklich, was meine Absicht gewesen war. Ich dachte, ich hätte etwas bei ihr bewirkt. Leider stellte sich das als Irrtum heraus.
»Es tut mir leid, Mom«, flüstere ich ihrem Grab zu. »Es tut mir ehrlich leid. Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich dir mein Glück schulde.«
Der Wind raschelt um mich herum, wispert durch mein Haar. Ich setze mich vor den Grabstein und schwöre stumm, oft wiederzukommen und dafür zu sorgen, dass sie nicht vergessen wird.
Den Rest des Tages sehe ich Micha nicht mehr. Ich schlafe mit Lila in einem Zimmer und schleiche mich aus dem Haus, bevor Micha aus seinem Komaschlaf aufwacht. Eigentlich bin ich nicht mehr sauer auf ihn, weil er getrunken hatte. Was er sagte, stimmt ja: Wir alle tun es, um unseren Schmerz zu verstecken, und müssen damit aufhören. Aber seine Worte verfolgen mich.
Lila und ich gehen rüber zu meiner Garage, und ich starte den Firebird meines Dads, weil wir etwas zum Mittagessen einkaufen müssen. Mein Dad bewahrt einen Ersatzschlüssel unter der Sonnenblende auf. Leider hat der Wagen so lange stillgestanden, dass es ewig dauert, ihn zu starten. Schließlich bekomme ich den Motor in Gang und lasse ihn eine Weile laufen, während ich durch den Schnee stapfe und nach einer Möglichkeit suche, ins Haus zu gelangen.
Lila folgt mir, macht ihren Jackenreißverschluss bis ganz oben zu und zieht ihre Handschuhe über. »Ist das kalt hier!«
»O ja, ist es.« Ich blicke zum vereisten Küchenfenster hinauf und sehe, dass es nicht ganz geschlossen ist. »Ah, ich glaube, ich weiß, wie wir reinkommen, auch wenn es da drinnen sicher nicht wärmer ist als hier draußen, denn das verdammte Fenster steht bestimmt seit Monaten offen.«
Als ich einen Schritt zurücktrete, piept das Handy in meiner Jackentasche, um mir mitzuteilen, dass ich eine SMS bekommen habe.
Blake: Was machst du so?
Nach kurzem Zögern schreibe ich zurück.
Ich: Versuche gerade, in mein Haus einzubrechen.
Blake:
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