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Für immer in Honig

Für immer in Honig

Titel: Für immer in Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dietmar Dath
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ihre Speisekarten im Skelettkeller liegen, nicht auf einem Bord, greifbar für jeden Arsch, dachte Stefanie. Bevor sie ihren Unmut darüber aussprechen konnte, nahm sie eine Veränderung im Raum wahr. Was passiert denn jetzt, ja hoppla, ich mein’, mich hebt’s! Die Empfindung war machtvoll ungreifbar, etwa so, wie man ganz dringlich nach etwas im Kopf rumtastet, das man braucht, aber vergessen hat. Also?
    Geruch nicht, Licht nicht: ach Gott, die Musik, richtig.
    Beethoven war vorbei.
    Stattdessen setzte jetzt etwas wie ein rhythmisch verschluckter, gedämpfter Gong ein, der Stefanie und Valerie, die gemeinsam aufmerkten, zunächst an ein Rundfunk- oder Schulpausensignal erinnerte. Vor dem Ausschwingen des Tons gekappt: dieser modern technizistische, digitale CD -Stotterlaut, von dem Stefanie sich jetzt erinnerte, daß sie ihn das erste Mal bei Madonnas »Don’t tell me« wahrgenommen hatte, damals im Studio 672 in Köln, an einem sensationellen Partyabend – sogar Dieter hatte seinen Arsch bewegt, bis ihm der spitze Hut kreiste, den er gar nicht aufhatte.
    In diesen großen abgezwackten Gong legte sich jetzt ein ganz ungeheuerlicher Gesang, eine glockenhelle Frauenselbstdarstellung – wo die normale menschliche Stimme aus dem feuchten durchbluteten Doppeldudelsack der Lungen kam, war dies hier aus einer fabrikneuen Isolierfolien-Tüte herausgepreßt, die bestimmt metallisch glänzte und sich, sobald die jeweilige Silbe geträllert war, augenblicklich wieder zusammenfaltete zu vollendeter Flachheit und abweisender Eleganz:
    The wind has gone
The invisible come
Your memories are being run
The mountain scarred
By invisible bars
The stillness is on guard
    »Meine Fresse … das ist ja total unheimlich«, staunte Valerie.
    »Und wunderschön«, sagte Stefanie, von der alles Unwohlsein wegen des Käfermanns abgefallen war.
    Skriba kam zurück – er legte, einen tiefen Bückling vorführend, zwei weinrot gebundene Speisekarten vor Schöninchen und Stefanie mit großer Geste auf den Tisch. Die Karten hatten Format und Dicke üblicher Menübücher dieser Art, aber anstelle eines Aufdrucks, der verriet, was das für Blätter waren, sah man vorn ein kleines Foto, golden und blau eingerahmt: grüner VW -Bus am Rande einer Wiese voller gelber Blumen. Darüber stand in schön geschwungener, geprägter schwar­zer Schreibschrift:
    Gute Reise!
    »Was bedeutet der Bus?« fragte Valerie. Das Wesen schwieg.
    Stefanie moserte, als sie die Karte aufgeschlagen hatte: »Die Wahl fällt mir wirklich schwer – sieht alles so schrecklich aus. Was ist zum Beispiel bitte ›Gegrillte rote Libellen aus den Schnitten‹ – aus was für Schnitten?«
    »Die Bezeichnung ist nicht ganz korrekt, wissen Sie«, dozierte Skriba leiernd, »diese Tiere stammen nicht einfach aus den Intersecciones so allgemein, sondern aus einem sehr kleinen Gebiet der Schnitte, um einen Teich nahe der Siedlung St. Cadoc, die vor den Pfauenkriegen …«
    »Vergessen wir den Kram«, nölte Valerie, zog eine Schnute und schielte schief nach oben. Dann fixierte sie mit strengem Blick Skribas Haar­an­satz über der linken Schläfe, wo sich gerade eine schlanke fliegende Ameise niederließ. »Vorne drauf steht: Gute Reise«, sagte Schöninchen, als Stefanie leise »Ihhh bäh …« machte, weil sie bemerkte, daß inzwischen schon eine gute Handvoll fliegender Tierchen auf Skribas Kopf herumkrabbelte oder ihn umschwirrte. Valerie räusperte sich und fuhr fort: »Ich finde, das ist extrem okay so. Wir sind wegen einer Reise hier. Weil wir einen Trip wollen.«
    »Äh?« protestierte Stefanie wenig überzeugend.
    Bedächtig sagte der Kellner: »Na sicher doch. Ein altes Lied: Warum bestellen Menschen unsere Spezialität? Warum essen sie das Zeug? Weil es auf dem schmalen Grat zwischen Nahrungsmittel und Droge tanzt, deshalb. Es geht für unsere Köche darum, das Toxin nicht völlig aus dem Gericht zu entfernen, sondern die Konzentration soweit wie möglich zu verringern, damit der Gast den berauschenden Effekt, den, meinetwegen, spirituellen Nachgeschmack erleben kann. Milde Betäubung von Zunge und Lippen, das Gefühl der Wärme, die Haut rötet sich, allgemeine Euphorie …«
    »Das Gefühl der Wärme. Wie gut, daß ich so tolerant bin«, versetzte Stefanie säuerlich und hörte zugleich schaudernd, wie die unheimliche Stimme um sie, hinter und über ihr sang:
    Oh, the wind will come
Blow, answer echo’s answer
    Skriba wandte sich ein weiteres Mal ab – jetzt

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