Für immer in Honig
das waren seine Füße, wieder in Turnschuhen, er spürte auch die Jacke um die Schultern, die Ärmel um die eben noch nackten Arme, und griff nach dem Geländer im Treppenhaus, während er bereits abwärts taumelte und Christina von oben, aus der Tür der Hexenwohnung, rufen, nein, klagen hörte: »He, nein, mach das nicht! Laß dich nicht rufen! Laß ihn nicht nach dir rufen! Torsten, bleib hier, hier bei uns …«
Bei denen?
In ihrem Satin- und Büchergrab, zwischen Kerzen und Götzenbildern im Farbabzug von irgendwelchen verwunschenen Mösen? Klar, warum nicht? Warum beeile ich mich so, davonzukommen, warum galoppiere ich durch Großberlin wie die Sturmabteilung Panik Null Fünf? Na, um meine Seele zu retten, vor diesen Hexen, mit ihren langen Zungen und Klauenhänden, ist doch klar. Wäre doch beknackt, sich von denen verschlucken zu lassen, von ihren Schlünden und Fotzen.
So war er hierhergefallen, deshalb raste jetzt die Stadt, tobten die Nerven.
Im schon etwas eiernden Dauerlauf nahm er schneidig eine Ecke, dann knickte er, der sich schief auf seiner Bahn zwischen dicht an dicht geparkten Autos auf beiden Seiten der Straße in die Kurve gelegt hatte, einfach ein, kippte in freien Fall, schlug sich beide Knie hart auf, zerriß die Hose, fiel auf die Hüfte, dann ging es Beine über Hintern über Schultern über Beine.
Torsten überschlug sich zweimal, mit allen Gliedern schlackernd wie eine Lumpenpuppe, rutschte bis zu einer metallenen Telefonsäule vor einem Bastelladen, dessen Schaufensterdekoration in keksfarbener Sparbeleuchtung funzelte, und klatschte endlich der Länge nach hin, mit der Schulter am Fuß des kühlen Telekompfahls anstoßend.
Es dauerte sechs Minuten, bis er zu sich kam.
Schniefatmend, während ihm das Blut aus der Nase in den halboffenen Mund rann und die Knie sich anfühlten, als hätte jemand mit dem Vorschlaghammer heiße Metallbolzen hineingeschlagen, drehte er sich, zu atemlos zum Schreien, langsam auf den Rücken. Poposchmerzen, dachte Torsten, als die ersten winzigen Regentropfen sein Gesicht und seine Stirne trafen, wie wenn man zu lange im Fahrradsattel gesessen ist.
Ich kann nicht aufstehen, kann nicht gehen, aua aua aua.
Der Regen roch gut.
Allmählich kehrte die Kontrolle über Beine und Arme zurück. Torsten krümmte die Finger, drehte die Füße gegeneinander, dann wieder voneinander weg. Patschte kurz in Pfützen rum, die sich eben bildeten.
Habe ich meine Sachen noch, in den Seitentaschen der Army-Hose?
Taschenlampe.
Wird noch o.k. sein: Hochmoderne Photonenpumpe, ein Abogeschenk, hat Vater Herbst von irgend so einer dummen Zeitung gekriegt. Geldbeutel. Die Karten. Schlüssel.
Was jetzt?
Hilfe. Torsten brauchte Hilfe. Er mußte das alles, diesen ganzen blitzenden und donnernden Scheiß, mit jemandem bereden, der eine bessere Übersicht hatte als er selbst, jemandem, der alt und reif war und genug gesehen hatte, um nicht vor dem zurückzuschrecken, was vielleicht zu tun war, und am allerwichtigsten: jemandem, der ihm ein Alibi besorgen konnte, für seine Eltern. Mutter und Vater Herbst waren nicht die aufgeschlossensten Menschen, wenn sie ihn so sahen …
Zum Glück habe ich meine Telefonkarte.
Denn, na, was war das noch für ein Gedanke? Es ist so schwierig, sich zu konzentrieren, mit dieser Gehirnerschütterung da. Also: Das hier ist eine Telefonsäule, neben meiner rechten Schläfe. An dieser Säule kann ich mich hochziehen, und mit dem Telefon, das dranhängt, kann ich um Hilfe rufen.
Ganz klar, wen ich jetzt brauche: Valeries Vater.
3 Es gab, schade, keine Kochbücher, die ihr sagten, wie man Hirn moussierte.
Rausgekriegt hatte sie’s aber doch: Her mit dem Schaum, erst zerkleinern, hallo Mixer, später der blaue Pürierstab, eigentlich ja für Milchschaumkaffee gedacht, zum Abschmecken vielleicht noch einige Nüsse rein, ist schon was, nicht für jeden, aber die Geschmäcker sind ja und so weiter und so fort. Rezepte für die Wolfsfrau: Nein, so ein Buch gab’s leider nicht. Margarete Thiel bedauerte das, aber wie so vieles, das sie bedauerte, ohne alle Bitterkeit.
Sie las nicht viel, denn es dauerte ewig, bis sie das wenige, was sie las, gelesen hatte.
»Die Wolfsfrau« aber, das Buch über die Auferstehung der wilden Weiblichkeit, das mochte sie, obwohl es grausame 560 Seiten Umfang hatte. Denn die Autorin, Clarissa Pinkola Estés – war das nicht selber schon das Jaulen der befreiten Wolfsfrau, dieser Name? –, sprach ihr aus dem
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