Für immer in Honig
ein mitleidiger Herr namens Abdullajew verkauft.
Viel Geschrei: »Damit du’s lernst! Damit du’s kapierst! Du bist nicht befugt, du kleiner Scheißer! Du kannst hier keine Exfreundinnen verdreschen, wie’s dir paßt!«
»Hilfe!«
»Helft uns! Hilfe!«
»Der hat hier den Krawall a’gfange, der Bimbo, nehmt’ en mit, der isch’s g’wäse!«
»Hilfe!«
»Hörst du? Scheißer!«
Der Schlitten des Geräts, das Schacko dabeihatte, um sich zu schützen, zuckte und klickte dreimal zurück, weil Schacko dreimal schoß. Er schoß auf die Leute, vor denen er so große Angst gehabt hatte. Er traf Achim Behnke in der Schulter, ein siebzehnjähriges Mädchen, Nonkombattantin, in die Brust, und das Dach der Wurstbude. Mehr traf er nicht.
Schon war Astrid Riedler bei ihm.
2 Spät im Leben, gegen Ende seiner kognitiven Fahnenstange schon, wurde der Mathematiker Eugen Leviné unruhig: Etwas war nicht so, wie es zuvor gewesen war; etwas war in Unordnung geraten.
Vielleicht hatten die Dinge einfach nur die Farbe geändert: Der nasse Gummibaum auf der Bochumer Veranda war nicht mehr ganz so satt grün, etwas Gelbliches hatte sich hineingestohlen in die Färbung dieses duldsamen Lebewesens, und das Rot auf dem Verkehrsschild am Ende der Straße war nachgedunkelt, es wirkte fast schwarz mittlerweile.
Töne veränderten sich auch, die Stimme seiner liebsten Studentin zum Beispiel, das Pfeifen des Teekessels war tieftönender geworden, brummig beinahe, und Leviné dachte mit Schrecken daran, daß die Kategorien der Wirklichkeit ihre Beweglichkeit vielleicht bald einbüßen würden, daß die Morphismen vielleicht doch nicht so etwas wie Handlungen waren, sondern farblose, stimmlose Dinge, und die Ordnung, zu der sein Denken anstiften wollte, nicht mehr Ordnung, sondern eine versteinerte Zauberstadt aus lauter Ruinen des Dezisionismus. Leviné kehrte dennoch immer wieder an die Arbeit zurück, immer wieder zum großen Wunder: Daß so viele tiefsinnige Ergebnisse der mathematischen Wissenschaften bloß kategorietheoretische Fassungen von Sachverhalten waren, die man schon auf der Oberschule gelernt hat. Der Grund dafür, daß man das bisher nicht gesehen hatte, war wohl, daß man bislang immer den Fehler gemacht hatte, die Mathematik gleichsam unterderhand zu dekategorisieren, indem man so tat, als wären Kategorien bloße Mengen.
Die Menschen hatten sich nicht klar gemacht, was sie taten, hatten den Gedanken nicht gekannt, den Leviné mit dem Wort »Morphismen« verband, sie hatten so getan, als ob isomorphe Objekte gleich wären, wirklich identisch, statt nur durch gewisse Akte ineinander überführbar.
»Felix Klein«, sagte Leviné bekümmert, »was hättest du damit angefangen?«
An seinem Schreibtisch saß er und grübelte drüber nach, ergebnislos, fruchtlos.
Klein hatte die Geometrie modernisiert, war sie abstrakter als jeder andere angegangen, mittels der Gruppentheorie. Weiter. Was ist eine Gruppe anderes als ein Spezialfall von Kategorie? Weiter. Wenn wir von einer Gruppe konsequent abstrahieren, nur noch die Assoziativität unangetastet lassen, als was Heiliges gleichsam, dann kriegen wir eine Kategorie. Eine Gruppe ist eine Kategorie mit nur einem Objekt, in der alle Morphismen Isomorphismen sind. Weiter. Leviné nahm ein Blatt Papier vom Stapel und zeichnete ein Bildchen:
Dann noch eins:
Und dann fiel ihm Bernhard Strähler ein, der Kollege aus der örtlichen Parteileitung.
Guter Mathematiker, philosophisch gebildet – Leibniz, Hegel, Gotthard Günther, was Sie wollen. Der hat Leviné im Sommer 1988 auf dem Kongreß in Leipzig beiseite genommen und ihm »ins Gewissen geredet«, wie er das nannte: »Genosse Leviné, ich verstehe ja durchaus, was Sie hier zu tun versuchen. Aber Sie machen uns vor den Amerikanern, verstehen Sie, Sie machen uns vor den Imperialisten hier lächerlich. Das ist Weltformelphantasterei, es ist … Ich schätze ihren Zugriff auf die Sachen, wirklich, der ist kühn und universal, aber es kommt mir, wenn ich so grob sein darf, in dem Moment, in dem Sie auf das Gebiet der, sagen wir, Geisteswissenschaften überwechseln, doch manchmal vor wie eine Neu aufl age von Dom Deschamps auf mathematisch.«
Leviné hatte sich nicht mutwillig dumm stellen müssen, um fragen zu können: »Wer ist Dom Deschamps?«, denn er wußte es wirklich nicht. Strähler hatte gelacht: »Jahaa, sehen Sie, den kennt nämlich niemand mehr. Dabei hat auch er die ganze Welt erklärt, genau wie Sie das
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