Für immer in Honig
Verhältnissen. Wenn man das nicht vergißt, dachte Leviné, macht einen so eine Geschichte nicht dumm, macht sie einen nicht zum Spiritisten, der an irgend etwas anderes glaubt als an Praxis und Welt, auch nicht zum Mystiker und Gläubigen, sondern: klüger. Man muß nicht an den Osterhasen glauben, um zu bemerken, daß die Menschen in den entsprechenden Ländern an Ostern Schokohasen essen. Man muß nicht an Nachtgeister glauben, um zu verstehen, daß es die W gibt, als ethnosoziale Praxis. Daß die Nachtgeister existieren, weil alle Geschichten wahr sind, wenn es nur praktische Geschichten sind. Je nach ethnischer Umgebung nehmen die W vielleicht verschiedene Formen an, diese alle haben aber eins gemeinsam: die Verwandlung, den kategorialen, morphischen Umgang mit Identität.
Leviné erzählte Strähler die Geschichte damals nicht. Er hörte vielmehr, wie empfohlen, bald ganz auf, von den W zu sprechen, und davon, was die Kategorien bedeuteten; er lernte zu verschweigen, daß es keine Sachen gab, daß sich »Sachen« auf der Welt der Menschen aus Handlungen zusammensetzten. Das Wahre ist das Gemachte, nicht das Gegebene: Daran hielt Leviné fest, auch wenn er es nicht mehr weitersagte, und fand doch, trotz aller Mühe, des Festhaltens, daß sein Spielraum sich immer mehr einengte; weniger wegen des herannahenden Todes, als weil er spürte, daß er diesem Skript nicht entrinnen konnte, daß er weniger war, als er hätte sein können: nur ein Kapitel in einem Roman, der von etwas ganz anderem handelte als sein eigener.
Er sah in den Spiegel – und das Gesicht, das ihn anschaute, war das eines verkrachten westdeutschen Mathematikers, ehemaligen Lehrers und Alkoholikers, dem er nie begegnet war, statt sein eigenes.
Und er erschrak, denn man hatte ihn gelehrt, daß Spiegel niemals lügen.
3 Was ihr am ärgsten auf den Wecker ging, war dieser Kameramann: Lauerte da, eine Sonnenbrille im Gesicht, mit seiner kleinen Handkamera, im Schatten der Kellerecke, während Astrid, angestrahlt von flutlichtintensivem Weiß, bei Schacko stand, der auf seinem Stühlchen festgebunden war und demnächst wohl an Erschöpfung sterben würde.
Was sollte der Scheiß? Was hatte der Dokter – schon wieder abwesend, wie vorgestern abend auf dem Markt, als Astrid sich den schwarzen Arsch geschnappt hatte, den sie hier jetzt erledigen sollte – sich dabei gedacht?
»Muß alles dokumentiert werden«, brummte Bernd in der andern Ecke, als hätte er erraten, was Astrid dachte. Sie war sauer, daß ihr niemand den Kameratypen vorgestellt hatte, daß der kein Wort sprach.
Déjà-vu: Bis auf die Filmerei war das hier genau wie damals bei dem Pornotypen, Stuck oder Struck oder Stack hatte der geheißen, und war schon längst woanders.
»Nimm noch mal die Bohrmaschine«, feixte Schorsch. Gina Weil, die auf dem Boden saß und einen der beiden Strahler festhielt, eine Mordspfanne von Leuchte, schnalzte mit der Zunge.
Die Bohrmaschine. Fürs andere Knie. Natürlich, dachte Astrid, damit das auch alles vollständig ist. Schacko lachte irr, gluckste hinter seinem Knebel. Dokumentieren? Wozu? Als Einschüchterungspropagandafilmchen? Für wen? Der Schrecken, der Astrid hatte sein sollen, wurde längst von den Patrouillen der toten SA-Männer übertroffen. Die Kadaver kampierten neuerdings in Zelten rund um die Villa des Bürgermeisters auf dem Hügel.
Überall auf der Welt gab es ähnliche Sachen jetzt, man sah das sogar manchmal im Fernsehen, »die Spitze des Eisbergs, Leute, nur die Spitze«, freute sich der Dokter.
Keine Polizei verlangte mehr danach, den kleinen Dealer, der einen Neonazi verletzt und eine Nonkombattantin getötet hatte, einer ordentlichen Gerichtsbarkeit zu übergeben. Astrid spuckte auf den Boden. Schacko tat ihr sogar leid. Außerdem hatte sie andere Sorgen. Philip, ach ja. Sie hatte ihm was aufs Maul gehauen, und dann hatte er sie in Aktion gesehen. Das war ihrer Beziehung bestimmt nicht zuträglich.
»Gib mir einfach dein Messer, wir machen jetzt mal fertig hier,«, sagte Astrid zu Andy, der aus dem Schatten trat und es ihr stumm überreichte. Seit sie ihn auf dem Kalten Markt verdroschen hatte, war er ihr loyalster Kamerad. Er wäre auf ihren Befehl vermutlich sogar auf Rainer Utzer selbst losgegangen, aber bei einem Neubekehrten wie ihm war das so viel nicht wert.
»Du sollst ihn aber noch fertiger machen, hat der Dokter sich gewünscht«, maulte Bernd.
»Wenn er ihn noch fertiger haben will,
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