Für immer in Honig
nicht.
Manchmal schon. Wir nennen es Fortschritt, wenn er nicht täuscht. (…)
Rein von dem her gesehen, wie die Welt ist, hätten die alten Ägypter auch schon Glühbirnen und Antibiotika haben können. Aber, sagt die Marxleserin: Die Produktivkräfte waren halt noch nicht so weit. Das klingt schlau, aber was ist das denn, eine Produktivkraft? An sich? Es gibt keine Produktivkräfte an sich, sie stehen immer in Produktionsverhältnissen, sagt die Marxleserin, wenn man sie danach fragt. Was heißt das?
Die Dampfmaschine steht in der Fabrik. Die Fabrik steht in einer Gesellschaft, in der einer eine Fabrik bauen läßt, weil er das Kapital dazu hat und weil die Fabrik aus seinem Kapital mehr macht, wenn er das verkauft, was die Fabrik herstellt. Die Dampfmaschine als Produktivkraft dampft somit nicht irgendwo irgendwann, sondern im Kapitalismus als dem sie ermöglichenden Produktionsverhältnis. Manche Produktionsverhältnisse sind für bestimmte Produktivkräfte, für ihre Entwicklung und ihren Unterhalt, günstiger als andere. Zum Beispiel der Feudalismus: Der ist schlecht für die Dampfmaschine. Worauf beruht der Feudalismus? Darauf, daß den Adligen das Land gehört. Die Leute, die auf diesem Land wohnen, müssen tun, was die Adligen wollen. Die Leute sind, als Anhängsel des Landes verstanden, damit Leibeigene. Wenn so ein Leibeigener eine gute Idee hat, sagen wir: die Dampfmaschine, hat er davon nix, denn er gehört sich nicht selber und kann schon gar keine Fabrik auf das Land bauen, das ihm nämlich auch nicht gehört. Wenn er vom Land wegkommt, das den Adligen gehört, irgendwie, in die neue Stadt zum Beispiel, kann er mit seiner Idee vielleicht Geld machen. Oder jemand anders leiht es ihm und macht damit Geld. In der Stadt mit ihrem Kapitalismus ist eine Idee, die zu mehr Geld führt, etwas wert, auf dem Land ist sie ein Hirngespinst, dessen mögliche Früchte bloß wieder der Landbesitzer kassieren würde. Deshalb passiert im Mittelalter so lange gar nix, sagt die Marxleserin.
Erstes Rätsel: Wieso finden sich die Leute damit ab, daß nicht nur in den mathematischen, physikalischen und chemischen Grundtatsachen, sondern auch in der Gesellschaft gelegentlich sehr lange nix passiert?
Zweites Rätsel: Wieso macht es ihnen nichts aus, daß nicht an die Grenze dessen gegangen wird, was zu allen Zeiten mathematisch, physikalisch, chemisch möglich ist, für das Glück der Leute; anders gefragt, warum leben wir, sofern wir keine W sind, nicht annähernd so gut, wie die Naturgesetze uns lassen würden; warum gibt es Arbeitslose, wenn noch so viel zu tun ist; warum verhungern welche, wenn unverkäu flich e Lebensmittel weggeschmissen werden; warum lassen Nazis Juden nicht in Ruhe, was geht die das überhaupt an, was diese Juden da für welche sind, wenn es doch immer noch so große Probleme damit gibt, allen alles zu beschaffen, was sie bräuchten? Vielleicht kann man beide Rätsel zusammenfassen zu: Was ist mit den Leuten los?
Nein, das ist zu ungenau. Reden wir, damit es genauer wird, erst mal nicht mehr allgemein von »den Leuten«. Die Sklavenbesitzenden unter den Ägyptern zum Beispiel, die können wir rauslassen. Sie hatten nämlich einen Grund dafür, nichts ändern zu wollen. Sie sind ganz gut gefahren, die Adligen auch, und die mit dem Kapital ebenfalls: Ihnen allen ging es, das konnten sie erkennen, besser als den meisten um sie rum. Wenn es mir aber besser geht als den meisten, wenn ich also sehe, vielen geht es schlecht, mir aber weniger als denen, dann bin ich nicht so scharf darauf, daß Experimente gemacht werden. Es könnte doch sein, daß es mir danach schlechter geht. Daß es mir wirklich gut geht, ist bei dieser Überlegung gar nicht bewiesen. Muß es auch nicht sein. Denn die optische Täuschung, es wäre so, kommt ja daher, daß ich sehe, wie viel schlechter es anderen geht.
Warum aber wollen die Sklaven, die Leibeigenen, die Malocher, die unzufriedenen Angestellten, die Arbeitslosen auch nix ändern? Erste Antwort, gefunden durch Nachdenken: Sie glauben halt, es geht eh nicht, sonst wäre es schon passiert. Zweite Antwort, gefunden durch Einfühlung: Es geht ihnen nicht so gut, wie es möglich wäre, das wissen sie irgendwo auch, oder spüren es, aber sie denken deshalb dummerweise, sie wären daran wahrscheinlich selber schuld. Also schämen sie sich irgendwie, und wenn sie doch mal rebellieren, dann eher trotzig als rechtschaffen, weil sie glauben, kein Recht aufs Rebellieren zu haben,
Weitere Kostenlose Bücher