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Für immer in Honig

Für immer in Honig

Titel: Für immer in Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dietmar Dath
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ihre Welt ging unter. Lokalmärkte wurden zum Weltmarkt zusammengeschmissen, der bewirkte, daß alles, was in den schon weiter fortgeschrittenen Ländern geschah und geschieht, immer schneller auf die anderen durchschlägt. Eine Zeitlang sah es so aus, als könne es, als Antwort darauf, so was wie einen »Befreiungsnationalismus« der zurückgebliebenen Gegenden geben: eine dialektische Phantasie, wonach der Fortschritt über den Fortschritt hinaus ausgerechnet aus den vom Fortschritt fast schon abgehängten Regionen kommt. Aber ganz dialektisch war die Welt dann doch nicht: Wenn die Fortgeschrittenen den Fortschritt nicht schaffen, dann bleibt er eben aus.
    8  Wie hätten die Fortgeschrittenen den entscheidenden Fortschritt übern schon stattgehabten Fortschritt hinaus schaffen sollen? Wie geht das? Nicht kamp flos . Die, die sich für gut weggekommen halten, werden nämlich nie hergeben, was sie haben und was den ganzen Laden arretiert und die Geschichte aufhält. An die Laterne, auf die Guillotine, Kugeln in Köpfe: Es wäre schön, wenn es ohne das ginge, aber daß es nicht geht, liegt vor allem daran, daß es unter den Verhexten aufgrund der Hexerei jederzeit mehr Ängstliche gibt, die vor der Gewalt erschrecken, welche die Herren treffen muß, als Vernünftige, die sie mit Maß und Ziel anzuwenden verstehen.
    (…) Wären sich die Verhexten einig, wäre der Bann schon gebrochen; manchmal wecken nur Schüsse die Leute auf. Es gibt allerdings Vorformen der Einigkeit, zum Beispiel die Weigerung, weiter für die Herren und das den Sachen äußerliche Regime des Profits zu produzieren, oder den bewaffneten Aufstand. Alles, was der Menschheit irgendwas gebracht hat, spielte sich seit Entstehen der Arbeiterklasse, seit Aufkommen des Kapitalismus irgendwo zwischen Streik und Bürgerkrieg ab, vom Frauenwahlrecht bis zum Kampf gegen den institutionalisierten Rassismus. Streik und Krieg, Krieg und Streik.
    Alles, was nützlich war, alles, was die Lage verbessert hat, lies mir’s vom Mund ab, a-l-l-e-s, war immer, jedesmal, überall, wo Moderne war, eine Folge der Anwendung der beiden großen modernen sozialen Medizinformen: Streik und Krieg, Parole und Waffe, Losung und Sabotage. Unterlassen und Handeln.
    Das Problem damit: Jede Medizin hat eine Haltbarkeitsgrenze. Wo alles Geschichte ist, also in der Welt des Menschen, kann auch der Streik veralten. Kurz vor dem Totentanz, in der Letztmortalen, begann er schon zu müffeln: Ach, daß die Arbeiter hier frech werden, das fürchten wir, die Herren des Abendlandes, schon nicht mehr, dann bauen wir die Fabrik halt im Osten, in Tschechien oder China oder weiß Gott wo, das Transportwesen heutzutage hält das aus. Bis dahin war alles hübschen Gesetzen gefolgt – wenn schon nicht Lassalles albernem »ehernem Lohngesetz«, wonach die Bezahlung der Arbeiter sich wegen des Profitratenverfalls aufs Existenzminimum zubewegt (wie albern, nicht mit weiterer Produktivkraftentwicklung zu rechnen), so doch dem, daß die Verhexten nur durchs Kapital beschäftigt werden können und sich das Kapital nur vermehrt, so lange es lebendige Arbeit beschäftigt. (…) Eine Weile also hielt die relative Vermehrung der Verhexten genau Schritt mit der Vermehrung des Reichtums, und die Herrschaft schuf, ganz gegen ihren seiner selbst ohnehin bewußtlosen, also paradoxen Willen, Zentren für Streik und Bürgerkrieg, zog die Verhexten dort zusammen und vermittelte ihnen damit, wieder ganz gegen das eigene, das kapitalistische Interesse, auch ein Bewußtsein von der eigenen Existenz, der eigenen Macht und Stärke. Der Marxismus nannte das »Klassenbewußtsein«, ohne es sind nicht Streik, noch Bürgerkrieg, keine Arbeiterbewegung, kein sozialer Fortschritt, der sich an die Warenproduktion ja unter dergleichen Bedingungen notwendig dranhängt und im günstigsten Fall festbeißt.
    (…) Das postmoderne und später postmortale Gequatsche von Dezentralisierung, von den Tugenden des in alle Himmelsrichtungen zerstreuten Menschengeschlechts, der »Multitude«, den »Umherschweifenden« und so weiter, ist ein quasitheologischer Verherrlichungsreflex auf den Untergang des Klassenbewußtseins: Als fast alle Menschen Proleten wurden, verschwand das Selbstbewußtsein der Klasse, denn wovon hätte man sie noch unterscheiden sollen, welchen Volkes Vorhut wäre sie noch gewesen, wem hätte sie helfen, wen erlösen können, als nur ihr unter Schlägen auseinandergelaufenes Selbst? Das Heil, versprachen die

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