Für immer in Honig
erstmals kodifizieren, nicht etwa begleitet, verallgemeinert und objektiviert worden, sondern exklusiv von ihnen hervorgebracht. So muß man das nämlich sagen, seit Foucault, selbst als Nichtfoucauldianer, und wenn es zehnmal nicht stimmt: Wissen, Macht, Begehren konstituieren irgendeinen Hokuspokus, blaß, allgemein. Die Idee der Masturbation führt, einmal verbreitet, erst zur Masturbation als relevantem Phänomen. Das ist der Kardinaldenkfehler: als ob der Rassismus die Sklaverei erklärt statt umgekehrt. So wird Geschichte verblödet, von denen, die sie schreiben …«
»Ach?« quittierte Beer den kleinen Wutanfall und strich sich eine Strähne von der Stirn. Die Frauen im Fanclub am Nebentisch waren begeistert – nicht lärmend, aber deutlich erkennbar.
Robert Rolf holte, nach dreimaligem kurzem Paffen an der Zigarette, noch einmal etwas weiter aus: »Schau ähm … Mister Laqueur läßt das ganze … soziale … Problem der Onanie mit dem achtzehnten Jahrhundert anheben. Das kann er machen, ohne deswegen gleich beängstigende Originalität für sich in Anspruch zu nehmen, denn heute fängt in diesen Kreisen, die hauptsächlich dazu da sind, die europäische Aufklärung zu diskreditieren, alles im achtzehnten Jahrhundert an, was uns derzeit Probleme macht: der Computer, die Pornographie, die Heavy-Metal-Musik, was weiß ich. Das wird dann aufgezählt, wie seitenweise Nebenwirkungen im Beipackzettel eines Medikaments, und natürlich wird damit vor allem dieses Medikament madig gemacht. Wären wir besser krank geblieben, lautet die Botschaft, auch wenn sie sich den zynischen Anstrich verpasst: Natürlich ist unser modernes, komplexes Leben durch all die vielen Nebenwirkungen erst richtig interessant geworden. Aber wer noch nicht ganz verrückt ist, hätte es lieber schön und kommod, und die hinterhältige Suggestion ist eben die, im Mittelalter wär’s schön und kommod gewesen. Der Urtext, der uns aus dem Unschuldsparadies vertrieben hat, heißt bei Laqueur: ›Onania or The Heinous Sin of Self Pollution, and all its Frightful Consequences, in both SEXES considerered, with Spiritual and Physical Advice to those who have already injured themselves by this abominable practice. And seasonable Admonition to the Youth of the nation of Both SEXES ‹.«
Beer nickte und kicherte, das Spiel spielten sie öfter: Robert Rolf konnte immer mal wieder irgendeinen Mist auswendig, vor allem Gedichte – Yeats, Pound, Baudelaire, Teile des »Faust«.
»Weiter, weiter«, ermutigte ihn Beer, der bei der zweiten Zigarette angelangt war.
Robert Rolf gehorchte: »Dieses Textchen, ›Onania‹, wurde im Jahre 1712 oder nahe daran veröffentlicht und stammt von irgendeinem armen Spinner, der damals schon raus hatte, was Stern und Spiegel und Focus heute auch wissen: Mit nichts kann man die Leute so einträglich aufgeilen wie mit der pausbäckigen Warnung vor im Dunkeln blühenden Sauereien. Sei’s Kinderporno, Sextourismus, Sadomaso oder, wie damals Siebzehnhundert-noch-was, eben das neue, unbekannte Wichsen. Der Autor des Traktätchens legt es also bei seinen Skandaldarlegungen, betont Laqueur, mit derselben Gründlichkeit auf bürgerliche Tugend an wie die zur nämlichen Zeit erscheinenden frühen Romane Daniel Defoes. Das Regiment der Sünde, dem sich die vom Heil Abgefallenen im Mittelalter unterstellten, war, sagt er breit und lang, im Grunde weniger verderblich für das seelische Gleichgewicht des verdorbenen Frommen, als für den Bürger das harte Regiment einer Lust, die ihm verspricht, jenseits der bürgerlichen Welt Erfüllung zu finden. Dem Bürger muß man nämlich, will man ein geschäftsfähiges Subjekt aus ihm machen, einreden können, daß er der Gesellschaft gewissermaßen willentlich beigetreten ist, anstatt bloß hineingeboren worden zu sein wie der mittelalterliche Mensch in seinen ›Stand‹. Gesellschaftlich, sagt die frühe Aufklärung, will man sein, weil Gesellschaft ihren, sagen wir: Teilnehmern die Erfüllung aller vernünftig wünschbaren Wünsche verspricht. Sexualität ist in diesem Rahmen nur ein Köder unter vielen – aber, weil mit der Natur des Menschen im Bunde, wie die Aufklärung sie sieht, ein besonders sicherer, den man deshalb nicht vom Haken rutschen lassen darf. Im Zuge seiner Erläuterungen dazu, wie das neue Laster von der so beschaffenen neuen Tugend der aufgeklärten Vergesellschaftung hervorgebracht wurde, breitet der Autor dann … wie soll ich sagen … beeindruckendes
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