Für immer in Honig
Wissen über das Schicksal jener Bücher und Pamphlete aus, die damals den neuen Menschen zu sich selbst kommen ließen: Wir erfahren einiges von Verlegern, deren größter Markt vor der Masturbationskunde die Branche ›Vertrieb von Zahnschmerzbroschüren‹ war, und wir lernen: Die Antwort auf das Asoziale der einsam lüsternen Wichser war ihre Erschaffung als soziales Phänomen, ihre Anbindung an einen protopornographischen Markt, wie er ganz ähnlich, diesmal als so richtig pornographischer, seither in allen Schubphasen sexueller Liberalisierung erneut entstanden ist.«
Beer gähnte niedlich, leckte sich die Oberlippe, drückte seine Kippe im Glasaschenbecher aus. Dann sagte er: »So, also, jetzt hast du versucht, das Buch gleichzeitig zu referieren und zu kritisieren. Am Ende hat das Referat gewonnen, oder? Ich meine, ist das nicht alles extrem richtig und lehrreich soweit? Für Studentinnen und Studenten der Sexualarchäologie? Lesbisch, schwul und hetero / Lobet all den Herrn Foucault?«
Beer grinste. Ein Nerv war getroffen.
»Ach Scheißhaus!« wetterte Robert Rolf. »Das alles, sagenwermal: schafft dem Autor Verdienste, schon recht. Aber dann wird’s einfach nur noch balla, wenn er mit wachsender Emphase Zeugs hinschreibt, wie daß ohne den blühenden Handel mit Büchern und Medizin und ohne das Profitmotiv die Onanie nicht existieren würde. Hallo? Erde an Diskurs? Solche Konjunktive sind Ergebenheitsadressen an die akademischen Standards, die Tatsachen aus Redeweisen herleiten wollen statt umgekehrt. Das einsame Laster der Diskursforschung, und das reicht von Urmel Foucault selbst über Leute, die zwischen de Sade und dem Surrealismus auf Spurensuche nach den Textgründen des, igitt, so genannten ›Begehrens‹ gehen, bis zum Dekonstruktivismus, für den es ›nichts außerhalb von Texten‹ gibt, und was weiß ich was alles für Käse noch – hier hast du es. Die glauben wirklich, man dürfe den Nominalismus vergessen, der da so richtig lehrt: Zeichen sind nicht Sachen, sondern Vereinbarungen. Diese Typen meinen, sie hätten was unglaublich Kritisches bei der Hand, wenn sie die Vereinbarungen als von Gewalt, oder wie sie etepetete umschreiben, von ›Macht‹ verzerrt finden, aber die Macht ist dann auch immer nur eine Redeweise bei ihnen, und so werden Redeweisen auf Redeweisen bezogen und falls doch mal wirkliches Tun der Menschen in den Blick kommt, dann eben nur als Konsequenz oder Epiphänomen von Redeweisen. Die Welt als ein einziges riesiges ewiges Gequassel, ständige Produktion von irgendwelchen verfickten Symbolen …«
»Verwichsten Symbolen«, berichtigte Beer.
»Verwichsten Symbolen, Verzeihung«, stimmte Rolf zu und fuhr fort: »Und wenn man das dann so macht, wenn man die ganze soziale Welt bloß als Kommunikation faßt, wie zum Beispiel auch dieser Luhmann, den sie da haben, dann ist man den Nominalismus natürlich im Abstrakten los, dann sind die Worte gleich den Dingen, das schneidet dann einfach frech die Überlegung ab, wieweit gesellschaftliche Praxis und gesellschaftliche Redeweisen einander genau nicht bedingen, einander oft nicht einmal verstehen.«
»Okay, okay, verstehe, nicht ausrasten«, gab sich Beer versöhnlich. »Damit wären wir wieder beim Thema, oder?«
»Hmpf?« machte Rolf unentschlossen, ihm war ganz entglitten, daß es ein Thema gegeben hatte.
»Na ja: wie unser Dieter Fuchs das hinkriegt. Die überschreitende, geile, allwissende private Geheim-Auskenner-Theorie, die kaum dreißig Menschen pro Großstadt begreifen – von Foucault bis zu irgendwelchen visuellen Kulturanalysemodellen von nächster Woche –, und zweitens die Bewunderung fürs Irre, und drittens dann die zahme Lebensweise, die sich in nichts von jedem armen Affen unterscheidet, der irgendwo als freischaffender Werbetexter …«
»Ja, Moment, Moment. Das war es vorhin nicht – davon haben wir’s nicht gehabt, vom Spalt zwischen Theorie und Leben. Wir waren davon ausgegangen, daß es vielmehr sogar schon zwei Theorien sind – eine für’s Besserwissen und eine für’s Guter-Mensch-Sein. Das zahme Leben wäre dann erst deren gemeinsames Produkt … wenn es stimmt, wenn das so ein Leben ist. Wir wissen aber gar nicht, ob Dieter so zahm ist. So zahm lebt«, gab Robert zu bedenken.
Das wieder aufl euchtende Grinsen Beers sah überraschend teuflisch aus: »Dann müßte man das eben mal rausfinden, oder?«
Es wäre ganz bestimmt besser für Robert Rolf gewesen, wenn er nicht nachgefragt
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