Für immer in Honig
eventuell davonträgt. Ein Mädchen aus Jims und Karins alter UNESCO -Brigade, knapp fünfundzwanzig Jahre alt, ist tot. Vier weitere der Unsrigen sind schlimm verletzt, einer noch schwerer als Yakov, ein Libanese. Der französische Arzt sagt, es sei nicht sicher, ob der Libanese die Nacht überlebt.
Karin flüstert mir zu: »Jetzt müssen sie sich revanchieren. Jetzt müssen sie Soldaten schicken.«
Wen sie meint? »Diese ganzen Leute, denen wir Wasser bringen. IDF . Kapuziner. Das halbe Land.« Die alten Schweinwerfer, an deren dauergrelle Stadionpower ich mich noch aus der allerersten Zeit erinnere, werden wieder aufgestellt, der Zaun wird geschlossen, zwei weitere Drahtwände zwischen dem großen Zelt und der Auffahrt werden hektisch errichtet. Ein bewaffneter Posten steht neben dem Zutrittsloch zu Skribas Keller und rührt sich nicht. Schichtwechsel alle acht Stunden.
Die Suchschweinwerfer machen mein letztes bißchen Schlaf zunichte. Es wird wenig geredet. Alle Trips außerhalb des Camps, ob per Jeep, zu Fuß oder mit den Flugzeugen, sind bis auf weiteres gestrichen, mein Besuch im Keller fällt wahrscheinlich auch aus.
Fuck fuck fuck fuck fuck. Jetzt ist der Krieg hier.
Achthundertzwanzigster Tag
Grabesstille, Friedhofsruhe: Das abgegriffenste Vokabular ist meistens grad treffend genug. Der ausgebremste Zustand hält an. Heute mittag habe ich das erste Mal seit Monaten sogar die Muslime beten gehört, obwohl ich am Brunnen zugange war, ein Fußballstadion weit weg. Die Chica redet mit niemandem, seit Yakov gestorben ist. Und niemand – außer Skriba, vermute ich – redet mit ihr. Heute nachmittag, beim Ausräuchern eines Schlangennests unter der Westecke des Hangars – Eitan hat so eine Rauchmaschine, die qualmt wie verbrannte Reifen –, fragt mich Simon in seinem komischen englisch-deutschen Kauderwelsch, das er von seinen Eltern hat, ob die Leute, die Yakov und das Mädchen totgeschossen haben, dieselben wären, die seine Schwester gekauft haben – er nennt sie »Sis«, das hat ihm bestimmt sein Vater beigebracht – und ob sie ihn jetzt auch kaufen werden, damit wir anderen, wir Erwachsenen, aus dem Camp rausdürfen. Er empfindet uns also als eingesperrt, und wohnt in einer Welt, in der Erwachsene Kinder verkaufen, damit sie freies Geleit kriegen – nicht, daß er den Ausdruck »freies Geleit« kennen würde.
Eitan beruhigt ihn, ich schaue weg.
Gerüchte meinen, daß wir bald wichtigen Besuch kriegen. Ich frage, ob das die kapuzinastische oder rumpfisraelische Unterstützung ist, von der Karin träumt. Nein, sagt Jamal, »important emissaries«.
Wird schon so was sein. Im Moment fällt’s schwer, bei solchen Sachen irgendeinen Enthusiasmus aufkommen zu lassen. Yakovs Grab ist nicht weit von den Tanks, ein Erdhügel, wie im Western. Bring ein paar Blumen, viel Zeit bleibt dir nicht, bevor du selber drankommst.
Achthunderteinundzwanzigster Tag
Am späten Abend, wir haben einander alle leila tov gesagt, der erdnahe, sterbliche Himmel saugt Delftblau aus dem Weltraum, als wär’s Opium, führt Skriba mich nach unten.
Es riecht nach Kampfer und Pfefferminz. Der französische Arzt hat mich vom Diwan geholt, nach dem Tafeln, zum Wachhabenden an der Luke gebracht. Der nickte, als ich vor ihm stand. So stieg ich denn die Treppe runter.
Bin ich wirklich dort unten gewesen? Grüne Gerüche, eine Empfindung zwischen Augenklinik und Geheimlabor. Das erste, was ich erkennen kann, am Ende der Treppe unter orangerotem Deckenlicht, sind zwei lange Bücherreihen links und rechts, die bis in unwirkliche Entfernungen sich zu verjüngen scheinen.
Hatten die Arbeiter wirklich so ein großes Becken ausgehoben?
Am Ende schimmert ein Lichtfleck, warm, gelb, rechteckig, hoch. Ich bleibe nach ein paar Schritten stehen, lese auf den Rücken die Titel der schweren Folianten, das Wort paßt wirklich: Nichts, das zu meinen Lebzeiten erschienen wäre, uralte Bände, beschlagen, Prägungen, scharlachrot und flaschengrün, Leder und Leinen, in allen möglichen Sprachen, aber thematisch stimmig, unisono, nichts als Exaktes aus den verstorbenen Jahrhunderten. Photographisches Gedächtnis:
Jacob Koebel: Geometrei
Abbé La Chapelle: Traité des sections coniques, et autres courbes anciennes
Ignace Gaston Pardies: Œuvres
Francesco Patrizi: Della nuova geometria libri XV
Treatise on Perspective
In der Mitte ein alter arabischer Schinken.
»Nimm das nur dort raus, Robert. Mach schon.«
Er steht im Lichtrechteck,
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