Für immer in Honig
Hals gestreichelt. Sie ließ es zu, hat irgendwie auch so ein ganz leises Geräusch gemacht, das vielleicht nach was Angenehmem klang, wenn ich mir das nicht einbilde, schaute dabei aber wie unbeteiligt an die Wand, kein Augenschließen, keine mimische Veränderung.
Ich denke natürlich die ganze Zeit diffus, daß ich an alldem schuld bin. Woran aber?
Wir wissen nicht mal, was das ist, was sie hat, linke und rechte Hirnhemisphäre sind den Tests zufolge nicht beschädigt, die Symptome passen weder zur Broca- noch zur Wernicke-Aphasie, ich führe mit Tepper endlose Gespräche über Symptomatik und Deutung, Konnexionismus im Hirn, Sprachzentrum, bla bla bla.
Er ist inzwischen, nach all den Tests, die wir gemacht haben, der Überzeugung, daß es was Psychotisches ist: »Schizoid, aktual ausgelöst durch die traumatischen Noxen, die wir kennen, aber vielleicht schon angelegt in irgendwelchen psychologischen Dispositionen. Katatonische Phasen … Schübe … manische Episoden.«
Aber wie kann er wissen, daß sie spinnt, wenn sie nicht sagt, was sie denkt, wenn wir keine Mitteilung kriegen von dem, was in ihr vorgeht? Ich habe das alte Zeug durchgelesen: Am ersten Tag habe ich wirklich gebetet. Hätte vielleicht weitermachen sollen; aber ich bin nicht mehr verzweifelt genug, nur noch niedergeschlagen, nekura, otomatschiko.
Philip ist viel unterwegs. Im Südlibanon werden jetzt fixe Basen eingerichtet und die Festung bei Nazareth wird ausgebaut, außerdem wird das alte Straßennetz erneuert, man bessert Kriegsschäden aus, als wäre der Krieg vorbei. Ein Mordanschlag auf Arafat, von dem es heißt, es wären mit uns sympathisierende Palästinenser gewesen, ist fehlgeschlagen, man hat ein paar Leute als Spione verhaftet. Jamal ist ein richtiger Mitnadev geworden, so nennen sie hier die Freiwilligen, die Soldaten des Kapuziners, ist wohl auch ein alter Kibbuz-Ausdruck. Bin schon zweimal rund um den See gewesen, Ramot, En-Gev, Ha-On, Ma’agan, dann rauf nach Tiberias, weiter nach Ginnosar – vor allem die letzten beiden sind richtig wohl gediehene (gediegene? langsam vergesse ich die deutsche Sprache, alles ist englisch) Gemeinwesen, fast schon wie im Frieden, wenn man mal die vielen Uniformen im Straßenbild mal ausblendet.
4. November 2012
Ramallah ist gefallen, Arafat von seinen eigenen Leuten verurteilt und hingerichtet, eine W hat ihn entwaffnet, es gibt offenbar einige davon in den Rumpf- PA -Gebieten.
Tel Aviv hat sich mausig gemacht, sie wollten ihn haben und von Westen vorrücken. Philip und sein Ex- IDF -General, ein Herr Jabotinsky, haben sie fünf Kilometer vor der Stadt gestoppt. Jamal wird morgen hinfliegen, ich gehe wahrscheinlich mit – sie wollen unserer »Föderation« angehören.
Es wird jetzt viel diskutiert, über Philips »politische Vision« – daß das Wiedererstehen menschlicher Regierungen für menschliche Bevölkerungen, wie er sagt, nicht die Form der alten Nationalstaaten haben kann, daß man überhaupt mit Geburtskonditionen, Blutregelungen, Rückkehrrechten und ähnlichen Erblichkeiten nicht mehr wirtschaften sollte, jetzt, da die Toten ein politischer und militärischer Faktor sind. Ganz anderes Politikverständnis freilich als damals zu Gippiezeiten: Nicht mehr die Welt erfinden, sondern in der gegebenen Situation ein Eckchen freischaufeln, wo man nicht von animierten Kadavern überrannt wird. Wenn ich meine alten Notizen lese – der Vorteil der größeren Abstände zwischen den Einträgen: ein distanzierterer Blick auf das Geschreibsel –, bin ich bestürzt, wie wenig das am Anfang eine Rolle spielte, nachdem wir vom Golan hierhergekommen waren. Keine politischen Vorstellungen, nur militärische. Ich bin jetzt Leutnant, ohne eine einzige weitere Kampfhandlung erlebt zu haben, und de facto bin ich sogar mehr als das, weil ich zur Entourage des Kapuziners gehöre – o ffizi ell, ich schäme mich fast, das hinzuschreiben, leite ich auch Jamals Ramallahmission, er ist nur mein Sonderadjutant.
Ich rede. Er übersetzt. So wird es auch dort werden.
Was ich abends zu Karin sage, und sie zu mir, übersetzt niemand.
Ani ohevet otcha, sage ich. Auf deutsch traue ich mich nicht, obwohl sie sowieso nicht reagieren würde. Wir sind jetzt eine Art Familie, ohne daß ich sie je wieder so berührt hätte – Simon, Karin und ich. Der Junge lernt sehr schnell, ist ziemlich ernst für sein Alter, und bringt mir Gerüchte mit, zu jedem Abendessen im kleinen, traurigen Kreis: »Weißt du, daß
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