Für immer in Honig
natürlich verloren.
Eben war ich bei Karin und hab’ ihr das alles erzählt.
Ich bilde mir ein, sie hat mich verstanden.
Gesagt hat sie bloß: »Milch, in der, in deiner meiner Sache. Sache vom Hals.«
Immerhin, die Sätze werden länger. Wenn das Sätze sind.
20.Juni 2012
So vieles, das ich aufschreiben müßte – Sachen gehen verloren, und wer sagt, daß ich ewig leben werde? Obwohl es schon erstaunlich war: Sie mußten mir die Kugeln nur rauspopeln, aus dem Rücken und aus dem Fuß, es gab sonst keine Spätfolgen, und geblutet hat es damals auch nur die zehn Minuten lang. Ich bin sehr zäh zurückgekommen von den Toten, viel fasriger als damals auf dem Spielplatz, die Fresser hätten heute keine Freude mehr an mir.
Ich schau viel fern, Europa ist ein Riesensaustall. Ob Valerie da irgendwo noch rumwuselt? Auf ihre große Reise gegangen ist, von der sie geredet hat? Ich erinnere mich an vieles, das ich nicht hinschreiben will.
Auch Philip erinnert sich: die Flugblätter, die Arbeit in der Gemeinde, Agitation, Fahrten nach Freiburg, Leviné, die Gippies, und daß wir beide den Namen Colin Kreuzer von damals kennen – wann die Erinnerung bei ihm zurückgekommen ist, weiß er nicht; ich schon. In Skribas Keller, er hat sie mir wiedergegeben, die Bilder gezeigt, einige unserer Flugblätter auch, und mir dann geboten, nichts davon im Tagebuch zu erwähnen.
Das ist jetzt gegenstandslos, denke ich.
Als der Damm mal weg war, kam das alles wieder, brodelnde Schlammflut, Klemens-August-Braun-Videos, ganze Sätze daraus, das Zirkular, die Pfadintegral-Idee von Geschichte, die Rangeleien mit der übrigen Linken, Lederjacken, Schutztruppe, Autonome schmeißen unsere Büchertische um, in Stuttgart, in Frankfurt … die Scham, als Braun verschwunden ist. Die Resignation, der Haß auf die neumodische Wirrlinke, diese Foucault- und Deleuze- und Theweleitschwätzer. Das ein zige Totem, das ich aufbewahrt habe: Kritik an der kritischen Kritik.
Ist Skribas Bann jetzt wirklich aufgehoben? Halber Mensch, das war ein Neubauten-Song. Halber Mensch dämmert. Verwelkt. Spricht nicht. Ich bin frei, könnte alles aufschreiben. Bloß wozu? Für wen?
4. September 2012
Ich habe dieses Buch jetzt eine Weile nicht fortgesetzt, mich hier reingefunden.
Die Dinge verändern sich: Wir haben die Höhen wieder, es gibt dort auch wieder Camps, besser befestigt, aber weniger zivil, mehr, wie Jamal sagt: »up in arms«.
Es wird damit gerechnet, daß wir demnächst in Syrien einmarschieren, das heißt: im Land selber, die Grenzen haben sich schon verschoben, Ma’allaqa und Schajara sind fast kamp flos an uns gefallen. Etwa ein Drittel unserer Leute aus Skribas altem Camp sind mit den Soldaten unterwegs nach Osten, der Rest hilft hier in der Festung, bei Medizin, Landwirtschaft, oder läßt sich fortbilden. Sogar die Kinder tragen Uniformen, Simon rennt den halben Tag mit den Soldaten rum, die den Fuhrpark betreuen, und hat sich an den Zustand seiner Mutter gewöhnt.
Dieser Zustand ist ein bißchen besser als das letzte Mal, als ich was eingetragen habe: Sie reagiert auf Ansprache, kennt manche Leute irgendwie, aber nicht mit Namen, Tepper zum Beispiel, Simon natürlich, vielleicht erkennt sie auch mich manchmal. Es hat was Autistisches, aber sie redet besser als am Anfang, klarer, wenn auch einsilbig, abgehackt und manchmal völlig neben dem Punkt – gestern, beim Abendessen: »Ketchup oder Raben. Ganz schwarz.« Ich frage: Raben, meinst du die Vögel?
Sie guckt mich kurz an, nimmt die Ketchupflasche, schüttelt den Kopf, als wäre ich ganz seltsam drauf, hat offenbar nicht gemerkt, was sie gesagt hat. Sie ist schwer zu irgendwas zu motivieren, aber wenn wir sie aufrichten, vom Bett, ich sie bei mir unterhake, und dann losgehe, spaziert sie mit, durch die Festung, auf der Mauer, um Philips Hotel. Eine Frau aus Tokio, ursprünglich Historikerin, die an einer Doktorarbeit über die alten Hebräer saß und hier hängenblieb, als der Totentanz losging, hat mir bestätigt, daß einiges von dem Zeug, das Karin manchmal brabbelt, japanisch ist: »Otomatschiko« heißt »automatisch«, und der in letzter Zeit auch häufiger auftretende Ausdruck »nekura« bedeutet »traurig«, »finster gestimmt«, »depressiv«, also ganz adäquat. Ich habe Karin erzählt, daß Jim tot ist, es scheint sie nicht zu interessieren, sie weiß scheint’s nicht, wer das war. Einmal, als wir alleine auf ihrem Zimmer waren, habe ich ihre Wange berührt und den
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