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Für immer in Honig

Für immer in Honig

Titel: Für immer in Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dietmar Dath
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nicht hören, dieses sachte Brummen, denn draußen war gar nichts, das die Schwingung tragen konnte, da war es nur ungeheuer kalt.
    »Aber ich mach … ich mach mir Sorgen um …«, sie wußte nicht weiter: War das also kindisch, sich Sorgen zu machen? Und um wen, wenn nicht um alle Menschen, da doch die bengalischen Feuer so groß sein mußten, wenn man sie von hier aus sehen konnte: groß genug, alle Menschen zu betreffen?
    »Komm mit zur Konsole, da siehst du, wie wir die letzten Shuttles reinrufen. Die landen auf dem Zwischendeck. Es geht los. Wir fliegen zum Mars.«
    Judith blickte noch mal aus dem runden Glas auf die glatten äußeren Flächen ihrer Station, die ein Schiff geworden war, und dann runter auf die Flammen unter allen Wolken.
    Sie war so froh, daß sie hier oben war, endlich mal aller Angst enthoben, endlich nicht mehr genötigt, rauszukriegen, wer man sein mußte, wem man gehorchten mußte, mit wem es zusammenzuarbeiten galt, in Sicherheit, auf dem Weg, draußen, oben, bei den Gewinnern.
    3  Niemandem wurde später je klar, wie genau sich die konfliktuierenden Befehle verzahnt hatten. Einige hatte die Präsidentin eingeben lassen, andere Cordula Späth, einige hoben einander auf, andere verstärkten einander, wieder andere machten die Choreographie einfach nur komplizierter.
    Die Geschosse einiger Silos gehorchten also Hillary, andere der Musikantin, soviel war einzusehen. Hatten sie sich das selbst ausgesucht, waren die Projektile vielleicht die Subjekte des Vorgangs? Aus welcher Perspektive läßt sich wahrheitsgetreu beschreiben, was geschah, als die Kameras mehrerer Wetterballons über den Bergen von Colorado in eiskalten Höhen erblindeten, als die Piloten, das Personal und die Passagiere einer Verkehrsmaschine im Anflug auf Tokio plötzlich das Gefühl bekamen, sie säßen auf einem großen Blecheimer, gegen den jemand mit einem Baseballschläger wütet, und dann hüpfte die Maschine, und es gab ein Geräusch, als ob eine riesige Wellblechplane bricht oder zerreißt, und eine Erschütterung, als ob ein Luftabwehrgeschoß ganz nah am Flugzeug explodierte, und dann sah jemand nach unten, wo Tokio eben noch gewesen war, aber da war jetzt etwas anderes als Tokio, was war das, wie geschah das?
    4  Vor der Siegessäule stand ein Paar im Blitz.
    Der Hitzepeitschenschlag dauerte nur eine Zehntelsekunde, brennbare Objekte in der Nähe fingen sofort Feuer, obwohl sich die Stelle Hunderte von Metern entfernt vom Hypozentrum befand. Die ganze Stadt hielt die Luft an unterm Feuerball. Noch in Potsdam, im Apartment eines mit Valeries Sohn David befreundeten dramatischen Schriftstellers, der gerade mit David telefonierte, um ihn zu überreden, seiner Mutter bloß nicht von Italien aus, wo er sich gerade befand, nach Amerika zu folgen, warfen die Bodenbeläge Blasen, schmolzen die Türklinken weg, zerbrachen alle Fenster, alle Spiegel, hörte das ganze schöne alte teilrenovierte Haus die Stimme von Cordula Späth: »Ich habe mir das so gedacht, daß es möglich sein müßte, die Welt anzuhalten und die Geschichte von außen anzusehen, wie ein Blatt in Bernstein. Bernstein heißt auf griechisch Elektron, wußtet ihr das? Hat das was zu tun mit Elektronik, mit der elektronischen Musik, die unsere späten Zufallsgesellschaften machen, oder mit der physikalischen Theorie, daß ›Materie‹ im wesentlichen aus den Hüllen von Atomen, also aus Elektronen besteht? Ja, hat es, und zwar mit all dem. Es gibt eine Hypothese, wonach alle diese Elektronen aller Atome im Kosmos eigentlich nur ein einziges sind, das vorwärts und rückwärts durch die Zeit fliegt, bis es an allen möglichen Orten gewesen ist, was immer in diesem Zusammenhang ›bis‹ bedeutet. Realität ist, wenn das stimmt, ein kleines Weberschiffchenelektron, das sich selbst zum naturgeschichtlichen Teppich verarbeitet. Die Welt als transzeitliche, im Raum aller möglichen Welten eingefrorene, eingebettete Bernsteinik . So hieß eine elektronische Klanginstallation von mir, ›Bernsteinik‹, Uraufführung war am 9. August 1998 in Hamburg, ohne große kritische Resonanz. Vielleicht habe ich mich ja deshalb, aufgrund dieses beschämenden Mißerfolgs – der kann natürlich politische Gründe gehabt haben, das Gedächtnis an meine Arbeit in der GPI war noch nicht bei allen Kritikern abgewaschen –, für das größere Kunstwerk entschieden, hallo Stockhausen.«
    Die Hitze, aus der das gesprochen wurde, war gottlos laut, aber nicht mal diese

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