Für immer in Honig
Mittelalter kehrte zurück, als wäre es nie weggewesen, und mit ihm – das hatten die Reaktionäre nicht bedacht, nehme ich an – auch die Widerstandsformen. Wir waren Kommunisten, die eine vernünftige Welt wollten. Die Konterrevolution hat die Welt aber verhext, die Lüge der Magie wahr gemacht. Und also haben wir uns angepaßt, einige jedenfalls – Ketzer statt Kommunisten. Und ich glaube inzwischen, dass niemand so sehr das Rettende in der Gefahr, die Chance in der Niederlage wahrgenommen hat wie die Musikantin.
F: Inwiefern?
J: Ich glaube, sie hat es früher kommen sehen als wir alle. Vielleicht schon vor Katjas Tod. Vielleicht schwankte sie bloß, wann es Zeit wird, scheinbar das Spiel zu beenden und abzutauchen.
F: Scheinbar das Spiel beenden?
J: In Wirklichkeit hat sie ein neues angefangen.
F: Und wir … du willst ihr jetzt helfen, es zu gewinnen? For old times’ sake?
J: Nicht ganz, Freddy. Es ist … alles ein bißchen anders geworden durch … Cordulas letzte Züge im Spiel. Die Lage hat sich fundamental verändert. Vielleicht verschlimmert. Das weiß ich, seit Ianthe bei uns aufgetaucht ist.
F: Ich denke, die hatte einfach eine persönliche Rechnung mit …?
J: Wenn die große objektive Scheiße in ihre Rechte tritt, gibt es keine persönlichen Rechnungen mehr.
SECHZIGSTES KAPITEL
Kein Test • Laß es schnei’n • Kein Zeichen • Was ihm fehlte • Was wißt ihr denn vom Kollaps? • Übergabe auf Gnade oder Ungnade • Biologische Recherche • Lauwarmes Wiedersehen
1 Die Treffen im Rathaus gefielen Andreas Witter, dem beliebten Veteranen, überhaupt nicht.
Spätestens zwei Minuten nach Sitzungsbeginn schweifte sein Hirn scheinwerfer ab, suchte meistens auf blöden Wortspielgleisen Erleich terung für die Aufmerksamkeitsmalaise: Warum nicht statt »Pausenraum« ein Plakettchen »Pausenclown«, und wieso nicht statt »Besprechungszimmer« ein Schild »Bestechungszimmer« draußen anbringen, schließlich waren Beamte nach der Revolution genauso käu flich wie vorher, es gab nur mehr von ihnen und dafür weniger, ja fast keine Kapitalisten mehr, die sie en gros bestechen konnten, so daß Nepotismus und Korruption auf ihr natürliches Titfortat-Maß zurückgestutzt erschienen …
Stundenlang ging das so, in Andys viel zu altem Kopf, samt lästigen Assoziationen: Wir hatten von nichts eine Ahnung, gar nichts, als die Revolution losging – daß man in Nordamerika nicht mit Gewerk schaften zusammenarbeiten durfte, weil die dort was ganz anderes waren als Arbeiterinteressenvertretungen, daß dort der Adressat das Militär war, gegen die Gewerkschaften unbedingt zu stärken, wie umgekehrt in Europa und Asien … Das haben wir lernen müssen, auf den langen Reisen, bei der schweren Arbeit, blutig lernen müssen, als die Gebietskämpfe anfingen, nach den Verwüstungen.
Wenn er solchen Gedanken lange genug nachgehangen war, schaute er sich seine Metallhand an, die schwer und sauber auf dem Tisch lag, dann die Bilder an der Wand, weil man hier im Städtchen doch so stolz drauf war, daß diese Leute hier herkamen: Jennifer Brunner, Philip Klatt, Robert Rolf. Die zwei lustigen drei, wie Aeryn neulich im Fernsehen gesagt hatte, und so nett gewesen war, dazu eine Fratze zu schneiden, die sich – den Ausdruck hörte man auch nicht mehr oft – gewaschen hatte.
Sitzungen: Kommunalarbeit, betrieben mit dem Aufwand und Bierernst der Hegelschen Logik. Nach einer Weile wurde ihm dann klar, daß man ihn hier nicht brauchte, daß er genau so ein Renommierschinken war wie die Fotos an der Wand, (Hillary sollte da auch hängen, auch wenn sie nicht hier herkommt, aber sie sollte da hängen, sie gehört dazu, genau wie Valerie und Dr. Rock und die vielen andern von überallher) ein Einrichtungsgegenstand, ein Pfand des Wichtig-Gefühls für diese Kleinstadtmenschen hier, mit ihrer aufrichtigen postrevolutionären Handwerkelei, ihrem ehrlichen Alltag, fünfzehn Jahre nach den Feuern, fünfzehn Jahre nach dem wirklichen Untergang der Welt, fünfzehn Jahre nach der Revolution.
Sollte nicht auch Cordula da hängen? Wortspiele, Anagrammlangeweile: Cordula, Drocula, was noch? Irgendwann blieb er einfach weg und hielt lieber daheim Weltschau, saß am Rechner, im Dunkeln, legte seine Hand aus Fleisch und Blut auf die andere aus Metall und Elektronik und guckte ins Gestern, das heißt: Er guckte nicht, er lauschte lieber. Es gab eine Menge Webseiten mit Tondokumenten aus den anderthalb Stunden des
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