Für immer in Honig
noch verschlossener – wenn Andy es nicht besser gewußt hätte, hätte er annehmen müssen, dies sei der älteste Teil des Komplexes.
»Hier gibt’s keine Spuren«, sagte er gescheit zu einer Krähe auf einem von Schülern verbrochenen Kunstwerk aus Müll, und die Krähe stimmte ihm mit sachtem Senken des Kopfes wohlüberlegt würdig zu.
Kurz nur blieb er am ersten Tag auf dem Friedhof, das Grab einer Frau namens Svenja kam ihm – erklärte er sich das später, beim Nachdenken darüber – zu geheim vor, zu sehr ein Mittelpunkt vieler Geschichten sans phrase, letzte Ruhestätte einer der beiden Frauen, die in großen scheußlichen Vorgängen wichtige Rollen nur dadurch gespielt hatten, daß sie eben nicht drin vorkamen: Svenja die eine, Cordulas ehemalige Geliebte, Katja Benante, die andere. Er wußte nicht, wie sie aussahen, er konnte sich kein Bild machen und war schließlich der Meinung, daß es sich genau so gehörte: »Ich hab’s erlebt, ich muß es nicht verstehen, ich war im Vordergrund beschäftigt, mir dürfen die Hintergründe egal sein.«
Diesmal war keine Krähe da, das zu bestätigen oder zu dementieren.
3 Das Sengelewäldchen mit seinen seltsam gebückten Eichen, die verschneiten Streuobstwiesen, der Aussichtsturm »Hohe Flum«, dem irgendeine Ballerei in nicht ganz grauer Vorzeit die Spitze abgebrochen hatte, sie lag nahebei im Schnee, das Eisenoxidschwarz des Waldes, in dem er Zeuge der Erhängung eines bald darauf ins Leben zurückgeru fenen bösen Mannes geworden war, die krapprubinfarbene Sonne überm Lasurbraun der alten Fabrikdächer, der leise, schneidende Wind, das Knirschen der Eisfläche auf dem Eichener See, wenn er ihn mit seiner Stiefelspitze betrat, und die kleinen Kinder auf dem Schulweg, die ihm weiträumig aus dem Weg gingen, wenn sie ihm auf einem seiner langen Spaziergänge begegneten, selbst wenn sie nicht von ihren Eltern wußten, wer der unheimliche alte Revolutionär außer Dienst mit der metallischen Klaue und der Augenklappe war, schließlich das Grab der Frau namens Svenja, das ihm immer besser gefiel, je öfter er hinging, bald einmal die Woche, zum Dastehen und Warten, auf kein Zeichen, kein nächstes Kapitel, keine Ahnung.
Der Weg des Menschen führt von daheim nach Hause, oder umgekehrt: Wo habe ich das gelesen?, fragte er sich auf dem Altighügel, als auf der Lichtung gegenüber dem Hang, wo er stand, endlich Rehe auftauchten, und dann sagte er zu Gottes gesamter Schöpfung: »This is not a test.«
4 Nach den ersten zwei Monaten in Sonnenthal war Andy mit dem Winterland, in das er sich zurückgezogen hatte, um, wie er meinte, sein letztes Lebensdrittel in aller Stille anzugehen, ausreichend vertraut, daß er sich neue Sorgen machen konnte, und sorgte sich also, ob er vielleicht zwar nicht depressiv, aber doch auf andere Art verrückt wurde.
Konkret ging es darum, daß einige Erlebnisse mit den langweiligen Sitzungen und andere kurze, oberflächliche Kontakte mit den Einheimischen ihm die Befürchtung plausibel machten, er möchte vielleicht die Fähigkeit verloren haben, sich überhaupt unter Menschen aufzuhalten, und das bloß nicht gemerkt haben, auf seinen Fahrten und revolutionären Kampagnen, weil der ständige Druck, die ständige Ge schäftigkeit ihn daran gehindert hatten, seine Grundstimmung als »ausgeprägte Misanthropie« zu identifizieren.
Die W, ihre Gesellschaft aus der vorrevolutionären Zeit, fehlten ihm.
Es traten, wußte er aus aller Welt, anders als in der kurzen blutigen Zeit des Totentanzes, kaum noch neue Fälle von Menschen auf, die sich als W erkannten, und ihm waren zuletzt, vor allem in Südamerika und Afrika, sogar W begegnet, die wieder zu Menschen wurden, ihre besonderen Fähigkeiten und sonstigen Attribute verloren, so plötzlich, wie diese im Advent des Totentanzes über sie gekommen waren. Andere, hatte er gehört und gelesen, verschwanden aus der Geschichte dahin, wo ihresgleichen seit Anbruch der Neuzeit immer abgewartet hatten, daß ihre Zeit wiederkäme: in den Wäldern, in den Wüsten, im Eis, in der Nacht.
Andreas hatte sie gemocht und bewundert, er wäre ihnen gern gefolgt.
Mit den Menschen war das anders: Denen erlaubte er erst sehr allmählich, ihn in seinem viel zu großen Haus auf dem Altighügel zu besuchen. Zuerst waren es, seinem Status als Gast der Bezirksverwaltung entsprechend, lokale revolutionäre Politiker und Verwaltungsbeamte, die ihr Abendessen an seinem Tisch einnahmen – am entfernten Ende
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