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Für immer in Honig

Für immer in Honig

Titel: Für immer in Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dietmar Dath
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immensen Sterbens. Bald konnten seine Lippen sie tonlos mitsprechen, so oft hatte er sie gehört, dieselben Sachen, die damals im Radio kamen, als Jenny ihn und Valeries Leiche irgendwie aus Washington hatte rausfahren können, und das bei dem Tumult – nur ein Mensch, der innerlich mit dem Straßennetz der Stadt eins ist, der es kennt wie die eigenen Wünsche und Ängste, hatte damals dieses Kunststück schaffen können, im Krach, im Sturz der Städte, und mit diesen gar nicht mal panischen, aber eben doch dringlichen, extrem unangenehmen Durchsagen im Ohr, die Andy jetzt wieder und wieder abspielte:
    »… closing down. Tune at once to your emergency station. Good luck, good-bye, and God bless you all!«
    »… not a drill. This is not a drill. Take shelter. Emergency personnel report to their stations. Do not go out on the street, if you have no shelter, stay in the best protected room of your home. This is not a drill. Unidentified ballistic objects have been sighted by our early warning systems and it must be assumed that they are missiles of some sort. Take shelter. Emergency personnel report to their …«
    Warum aber, fragte er sich dann manchmal doch, waren ihm diese alten Nachrichten lieber als die neuen, wo doch diese neuen eigentlich meist gute waren, und die alten meist schreckliche? Neue Nachrichten: Die Escapees haben jetzt auch formell den Vertrag mit der Erde unterzeichnet, alle 250 damals von Kreuzer als Vorab-Truppe auf den Mars geschickten Kolonisten, das heißt die noch Lebendigen und ihre ersten inzwischen geborenen Nachkommen, nehmen o ffizi ell Beziehungen mit dem New Yorker World Council auf, »Die Gattung Mensch«, wie Schimon Corbett geschrieben hat, »ist jetzt wirklich eine, obwohl sie auf zwei Planeten lebt.«
    Lustig, daß das so lange gedauert hat, schließlich waren die Marsianer doch nicht der Klassenfeind, sondern bloß Techniker, Scouts, Angestellte, Abhängige jener Reichen, die mit Kreuzer im Mutterschiff hatten verbrennen müssen. Trotzdem: Die Vereinigung von fünfeinhalb Milliarden Bolschewiki mit zweihundertfünfzig Menschewiki brauchte, nachdem man auf der Erde im nachrevolutionären Jahr vier von der Existenz letzterer erfahren hatte, volle elf Jahre.
    Die neuen Nachrichten, meinte Andreas, waren im Gegensatz zu den alten aus den anderthalb Stunden des immensen Sterbens vor allem langsame Nachrichten, und das galt ganz besonders für die Allerneuste, noch neuer als die Unterzeichnung des Marsvertrags, denn auf die hatte man nicht elf, sondern tatsächlich die vollen fünfzehn Jahre seit dem Weltblitz gewartet: Cordula Späth war gefangen, der Prozeß angekündigt.
    Sie hatte, aufgespürt in Schottland, ihren Fängern eine seltsame kleine Erklärung abgegeben, die von den Medien der Weltgesellschaft als Beweis ihrer Unzurechnungsfähigkeit in den letzten vierundzwanzig Stunden seit ihrer Verhaftung abgespielt worden war, bis sie eierte: »Ich bin schuldig der Schuld. Die erste Pflicht des Arztes ist: um Verzeihung bitten. Aber es gibt auch ein paar mildernde Umstände, die man in Erwägung ziehen sollte, wenn man gegen mich verhandelt: Erstens, alle Menschen werden Brüder, wo dein sanfter Flügel weilt. Zweitens, imagine this, the whole world sharing one big kiss.«
    Andreas fand nicht, daß diese Erklärung auf irgendwelche geistigen Defekte hindeutete.
    Cordula Späth, die man inzwischen nach Amerika gebracht hatte, wo sie in einem Sondergefängnis nahe dem ehemaligen Pentagon bis zur Prozeßeröffnung bewacht werden würde, war genauso furchtbar vernünftig wie immer, und deshalb wollte der nach all den anstrengenden Partisanen- und Revolutionärsjahren Heimgekehrte, der den Menschen fünf Romane von der Länge dessen, den Du gerade liest, hätte erzählen können, von der ganzen Sache nichts wissen, sondern hörte sich lieber an, was die Vergangenheit ihm zu erzählen hatte.
    Denn das war einfach und ging schnell: »… not a test …«
    2  Im Winter war er eingetroffen und hatte gleich – um nicht in andernfalls unvermeidliche Kriechstromdepressionen und barocke Vanitaspfützen abzugleiten – so getan, als ginge es ihm nur darum, Geschichten abzuschließen, sie zu überprüfen, melancholisch ihre Spuren zu besichtigen, Geschichten, die hier andere erlebt hatten.
    Der Letzte macht das Licht aus, Andreas Witter sprach es laut in die Winterluft, als Wolkensprechblase: »Ich muß es zu Ende bringen, weil so viele von den andern schon so lange nicht mehr da sind.«

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