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Für immer in Honig

Für immer in Honig

Titel: Für immer in Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dietmar Dath
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Er war schon am zweiten Tag zu Jennys altem Haus gegangen, wo ihre geschiedene Mutter noch zur Zeit des Totentanzes gelebt hatte. Die Fassade sah autistisch aus, ein stumpfes Gesicht, verschluckter Fachwerkwachtraum, damals nicht dagewesen, neu draufgesetzt wohl nach dem Totentanz; wer immer das getan hatte, war weitergezogen, wahrscheinlich in die Hölle. Die Fenster stierten blind, das Ding stand leer, kein Drama: Die Revolution hatte so viele Gebäude noch nicht für die Menschen zurückerobert; es gab, vor allem in den reichen Ländern, mehr Wohnraum, als benötigt wurde, auch bis auf weiteres unbe wohnbaren, verstrahlten, an den Peripherien der achtzig bombardierten Metropolen.
    Immerhin, kein nuklearer Winter, nur ein ganz normaler: begrenzter Schlagabtausch.
    Die alte Kirche gegenüber der Grundschule, vor der, um Gottesdienstbesucher zu ärgern, Jenny, Philip und Robert in den frühen Achtzigern des letzten Jahrhunderts sonntags Flugblätter verteilt hatten, und hinter der in den späten Siebzigern zwei von ihnen als Kinder auf der Treppe Götter gespielt hatten, besuchte er als nächstes. Sie sah aus wie ein Rostfleck auf dem stählernen Grau der Straße, des Himmels, der Zeit.
    Die Göttertreppe war noch da, hinter neu gelb lackiertem Zaun, und auch das Kindergartenspielplatzklo auf der anderen Seite des Gotteshauses machte Andy ausfindig, wo Jungs mit Jenny und einer lang verschwundenen Claudia Doktorspiele riskiert hatten.
    Die Grundschule hatte eine Sonnenenergie-Absorberfront aus neuem Polykohlenstoff, war dreckfrei wie das Innere eines fabrikneuen Computergehäuses, gereinigt von allen Albernheiten der Epoche. Andy schenkte ihr kaum einen Blick und dachte sich: Teilweise kriegt der Fortschritt es dann also doch hin, einem die Sicht auf den stinkenden Schimmel zu verstellen, über den er gesiegt hat. Er stand ein Weilchen rum und rauchte erst mal eine übertrieben dicke Zigarre, deren intensiver Laubgeruch ihn dafür entschädigte, daß er nicht im Herbst angekommen war.
    Dabei formulierte er, wie er das häufig tat, seit er beschlossen hatte, sich zur Ruhe zu setzen, im Kopf einen Satz seiner Autobiographie, die er zusammen mit einer kommentierten Neuausgabe des Buchs A schon länger geplant hatte: Seit meinen Reisen durch Amerika, während des chaotischen Jahrfünfts, in dem dort Revolution und Wiederaufbau vonstatten gingen, bin ich starker Raucher, bevorzuge aber Zigarren und unter denen die kubanischen.
    Der Satz war, wie die wenigen anderen Sätze, die ihm dazu bisher eingefallen waren, nicht besonders glänzend, deswegen schrieb er auch nie einen davon auf. Als er mit der Zigarre fertig war, streckte er beide Arme aus, nach rechts und links, wie ein Gekreuzigter, und überlegte sich, etwas heldisch Trauriges zu rufen. Er ließ es aber bleiben und die Arme wieder fallen. Wie er dem Dokter gefallen hätte, wenn der das alles noch hätte sehen dürfen – weiß man’s? Man weiß es nicht.
    Dann ging er nach Süden, die Müllerstraße lang, auf der Bahnhofsstraße in umgekehrter Richtung noch einmal an Jennys Haus vorbei, über die Gleise, gegenüber dem ehemaligen Altersheim – da stand ein neues Milizengebäude, die nahegelegene einstige Polizeistation hatte man abgetragen –, hiernach die Schwarzwaldstraße entlang, durch den Park um die Ruine des alten städtischen Krankenhauses, in dem Philip gelegen war, nachdem Astrid ihn verprügelt hatte, weiter die Schwarzwaldstraße hoch zur Kreuzung, unweit des ehemaligen Hauses der Frau Flasch, das er nicht mehr fand.
    Vorm Totentanz von Panzern sturmreif geschossen, war es in den zweieinhalb Jahrzehnten seit Philips scheinbarem und Astrid Riedlers tatsächlichem Tod am Tag des Totentanzauftakts offenbar in die Erde gesunken. Ein Feld mit ein paar Steinen war alles, was man dort noch besichtigen konnte, und Andy erinnerte sich an den Garten, die Hasen, die Handschuhe des Dokters und dachte: Hier wächst kein Gras mehr.
    So hatte er denn die Schule besucht. Es gab sie noch, das heißt: wieder, aber der Betonbogen des ehemaligen Fahrradständers war zugeschneit, die eisernen Bügel für die Reifen der Räder hatte man entfernt, der Treffpunkt existierte nicht mehr. Hätte auch ein stillgelegtes Planschbecken sein können.
    Der Acker rechts, über den sie im grünen Bus zusammen geflohen waren, Valerie, Cordula, Klemens August Braun und er selbst, war ebenfalls verschwunden. Hier stand ein neuer Anbau des alten Schulgebäudes, noch grauer, noch eckiger,

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