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Für immer in Honig

Für immer in Honig

Titel: Für immer in Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dietmar Dath
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»Sonnenblume« in der Straße, in der Jenny gewohnt hatte, dicklich zwar, matronenhaft, aber nichts erinnerte an »Fette«. Sie wirkte eher gemütlich zusammengestaucht und ein bißchen aufgegangen, hatte viel Kuchen und Torten gegessen, also nicht Chips und Hamburger wie damals.
    Zwei Töchter, verheiratet mit einem Deutschlehrer.
    Beide verehrten, of all people, Christof Reuland: Sein Porträt hing im Wohnzimmer, neben der Bücherwand, und Abzeichen der NATO -West fand man überall in der Wohnung. Offenbar gab es einen Markt für solche Devotionalien in Süddeutschland, schon vor der Revolution hatte es ihn gegeben, die sozialistischen Verwaltungsbeamten und revolutionären Kader samt den Milizen sahen mit Argwohn zu, aber »der Verschwundene« war eben eine Heimatkultfigur und seine Verehrer gaben sich unpolitisch, eine Haltung, die, zu Andys leisem ­Miß­ver­gnügen, keinerlei negative Sanktionen nach sich zog.
    Beim Abendessen, zu dem ihn Julia und ihr Mann einluden – es gab Kalbsbrust im Zwiebelbett, die Würze von Lorbeerblättern, Wacholderbeeren und Thymian war ausgezeichnet, Julia, Lokalpatriotin geworden, hielt offenbar viel auf badische Küche –, äußerte Andy hö flich Bedenken wegen des Reulandkults, gab sachte zu verstehen, daß man doch jetzt weiter sei als »in Zeiten, wo sich die Leute einen starken Mann wünschen konnten, damit der Totentanz aufhört«, das läge »hinter uns, dank der Revolution«.
    Die lehnte das Ehepaar, wie er ihren Antworten entnahm, nicht offen ab, aber sie gehörten doch zu dem, was er in einer Rede in Afrika vor drei Jahren einmal den »reaktionären Bodensatz der alten Zeit« genannt hatte, Provinzler eben, ressentimentgeladen, traditionsverhaftet, fortschrittsunwillig.
    »Er hat uns befreit. Du warst nicht hier, Andreas, beim Totentanz«, – Ich weiß, ich war mit dem grünen Bus unterwegs, dachte Andy –, »aber es war … es war schlimm. Wenn lebende Tote marodieren und zündeln, wenn gequält wird und vergewaltigt, wenn es überall nach Moder riecht, die ganze Welt im Gestank versinkt … und dann ist Reuland gekommen, mit seinen Truppen aus der Schweiz und aus Bayern, wo sie schon aufgeräumt hatten, mit Panzern und Bautrupps. Junge Soldaten, niemand älter als fünfundzwanzig, fröhlich, haben hier vieles aufgebaut, damals schon, nicht nur Krieg gegen die Toten geführt. Die haben uns Elektrizität gebracht und Wasser und Nachrichten von da, wo’s besser war.«
    Andy dachte, während er Julia, die gerade den Nachtisch – Russische Charlotte mit Früchten und Sahne – servierte, so reden hörte, an das, was er über die Vendée wußte, fragte sich, wie viele solcher Menschen es überall auf der Welt gab, und erinnerte sich an etwas, das ihm Cordula mal erzählt hatte: »Einmal, in Berlin, in der U-Bahn, hatte ich eine Epiphanie: Revolution machen wollen, das hat gar keinen Zweck, weil es immer diese scheußlichen Menschen geben wird, die da gerade um mich rumstanden, den Typ mit Bomberjacke, der seine dürre gelbgesichtige kettenrauchende Frau anschreit, und sie, die das einsteckt und zuhause dann vielleicht zurückkeift, ewig an ihr Leiden gekettet. Und dann dachte ich, Moment mal, andererseits: Das da sind, qua Moderne, qua industrielle und Französische Revolution, schon bessere Menschen mit besseren Zähnen, als es vorher gegeben hat, auf den schlechteren Plätzen.«
    Galt das auch für Julia und ihren Mann? Bessere Zähne. Heldenverehrung. Reuland als Napoleon. Kaffeetisch, Deckchen. Der Abschied fiel nicht schwer, geriet kurz, steif und förmlich, Julia, ihr Mann und Andy wußten: Man würde sich grüßen, wenn man sich mal in der Stadt traf, aber Einladungen würden keine mehr ausgesprochen werden.
    Julia, dachte Andy auf dem Weg den Altig hoch zu seinem Haus: Die hat sich genau da eingerichtet, wo so grundverschiedene Frauen wie Jennifer Brunner und Astrid Riedler immer nur rauswollten.
    Was bedeutet das?
    Was ist Geschichte?
    Warum habe ich alles verloren, warum hat Cordula, meine Mutter, mir alles weggenommen, wenn das Ergebnis des ganzen Aufwands dann gerettete Menschen sind, die gegen ihre eigene Rettung Vorbehalte haben und sich etwas zurückwünschen, für dessen endliche Abschaffung und Überwindung Millionen gestorben sind: die uralte autoritäre Erlöserlüge?

EINUNDSECHZIGSTES KAPITEL
    Verhandlung, Urteil, Wegweiser • Vorletzte Worte • Abend will es wieder werden • Durch einen Spiegel • Kohärenz versus Korrespondenz •

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