Für immer in Honig
saß.
Minutenlang verharrte er betreten. Dann dachte etwas äußerst Fatalistisches in ihm: Mein Gott, du hast ja so recht, Stefanie. Hoffentlich ist es nicht ansteckend.
7 Endlich aber wurde Schöninchen, die getauft worden war als Valerie, von ihrer Freundin Sarah im Traum in die märkische Wüste geführt, auf das Dach eines Bunkerbaus, damit ihr erklärt würde, was mit ihr geschah. Und da sie einen nicht mehr ganz einwandfreien Salat gegessen und zuviel Cola getrunken hatte, bevor sie ins Bett ging, danach aber noch eine Milch, was sich sehr schlecht verträgt, hatte Schöninchen Bauchweh.
Die Aufklärende trat zu ihr und sagte: »Du bist nicht irgendein Mädchen, aber einzigartig bist du auch nicht.«
»Sei nicht wieder so typisch«, maulte Valerie, denn es machte ihr Sorge, daß sie in der Ferne Berlin brennen sah, mit violetten Flammen auf den Dächern. Sarah lächelte ein weises Lächeln, das ihrem wirklichen Alter angemessener war als ihrem gefälschten Mädchengesicht, denn sie war sechshundert Jahre alt:
»Dein Bruder ist cracksüchtig. Deine Schwester ist ein Wrack. Deine wahre Mutter – nicht die tote Frau im Bett deines biologischen Vaters – gibt ihr Bestes. Deine wahren Väter sind Lügen. Ihr seid eine große Familie: die spätesten Nachkommen der Vorfahren, der loa , wie sie auf Haiti sagen, in dem Land, das zuerst Zombies gegen die verkehrte Welt in den Krieg geschickt hat. Ihr seid die W, und ihr sollt einander lieben.«
»Ich verstehe nicht …«
Da führte Sarah Schöninchen aufs Promontorium Sacrum, das heilige Vorgebirge der Vorfahren, und sie sahen hinab auf die Farben der heiligen Stadt und die Zinne des Tempels. Und die falsche echte Sarah sprach zu ihr: »Dein Bruder verkauft Autos. Ein anderer war schwul, er lebt nicht mehr. Weitere Brüder sind gestorben. Deine Schwester wird immer da sein, sie kann nicht sterben. Ihr sollt einander lieben.«
Da wurden Valeries Augen aufgetan, und sie sah ihre Brüder und Schwestern in der Zerstreuung, in der Gefangenschaft, in der verkehrten Welt, überall unterhalb des riesigen Felsvorsprungs, auf dem die Stadt stand, in der St. Oswald zuerst gepredigt hatte, Schöninchen sah die Schwester, die sich im Meer ertränkt hatte, aus Angst vor den deutschen Flugzeugen, und den Bruder, der erblindet war, als er die Wörter ineinandergeschoben hatte wie kleine Metallkettenglieder, sauber und glänzend, und den anderen Bruder, der am Ende eines viel zu langen und beschwerlichen Weges blutend am Rand des Waldes verschwunden war und in einem Brief geschrieben hatte: »Le temps des tâches pour moi est révolu.«
Und Valerie sah sich selbst, ihren eigenen Pfad, gekreuzt von den Dienern der Unterdrücker und Mörder und Quäler ihrer Brüder und Schwestern, und sie sah einen windzerrissenen Himmel, hörte den Fluß sich empören, hörte die Alten, wie die sagten, was sie zu sagen hatten, und sie las eine Verfassung in den Sachen, und hörte von einer Revolution, sah, wie die Vögel von den Überlandleitungen emporflatterten in den neuesten aller Tage.
Valerie folgte Sarah in die Felswand, höher und höher kletterten sie zusammen.
Immer wieder blieben sie stehen, und wenn Valerie nach unten schaute, erkannte sie sich selbst, wie sie dort mehr als einmal starb, wie sie gebrochen auf dem Rad lag. Am Ende saßen sie auf gefrorenen Wolken und Valeries Herz war schwer von zuviel Freude. Sarah stand auf, legte ihr die Hand auf die Schulter und sagte: »Eine von den armen Leuten, die es nicht böse meinen, liebt dich, und ein Verräter liebt dich auch.«
Valerie sagte nichts, denn sie wollte nur weiter sitzen, im ganzen Licht des Tages, ungeteilt und richtig.
»Du hast verwirrende Sachen gelesen und versucht, einen Widerspruch zu leben. Und hast dich immer gefragt, wo zum Teufel du eigentlich bist. Aber es gibt eine Liebe, die immer auf dich warten wird, eine Wahrheit, die niemand zerstören kann.«
»We… woher … weißt du das alles?« flüsterte Valerie, die sich nicht darüber täuschen konnte, daß die Dinge, die Sarah ihr sagte und zeigte, wahr waren.
»Ich bin keine von euch, keine W, Valerie, auch wenn ich gern eine wäre. Ich bin mehr so was wie Dr. Rock, der leider Anteil hatte an der Mythematik, der Mythizin und der Zombotik, und das sehr bereut – er ist ein Houngan, ein Priester und Wissenschaftler. Ich gehöre, obwohl Christina und einige andere hier in Berlin eine Art Hounsis bilden um mich, keiner der alten Schulen von Haiti
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