Für immer in Honig
für Tote alles tot, auch wenn sie sprechen können, mutmaßte Peter Thiel trüb. »Erdnüsse und Walnüsse schon, aber die Macadamias sind weg. Ich holse«, sagte er mit so viel Bestimmtheit, wie er aufbringen konnte.
Auf dem Flur blieb er vor der Tür seiner Tochter stehen und spürte, daß ihm ein Schweißfilm auf der Stirn stand. Auch zwischen den Schulterblättern war Feuchtigkeit, sogar auf den Armen: die fleischlich schimmlige Ausdünstung, von der sie in Weltraumkriegsromanen immer schreiben; Angstschmiere.
Er stützte sich an die Wand und merkte, daß er nur hier, weg von der lebenden Leiche an seiner Seite, überhaupt klar denken konnte. Was er klar dachte, war dies: Valerie hatte viel zu viele neue Klamotten in letzter Zeit. Beinahe täglich kam sie mit neuem Kram an. Lidschatten benutzte sie seit vierzehn Tagen, zwei Paar neue Ohrringe hatte er seither bemerkt, weil er nicht alles merken konnte, waren es wahrscheinlich mehr.
Ganz davon abgesehen, was da vorging: Wie sollte er, selbst wenn er’s sicher wüßte, dagegen einschreiten? Natürlich konnte er jetzt in ihr Zimmer schleichen, statt Macadamias zu holen, ihren Kleiderschrank durchforsten und ihre Kommode, in ihren Sachen wühlen, ihren Schmuck und ihre Unterwäscheschubladen kontrollieren.
Aber war die teure Aufmachung, der immense Klamottendurchlauf nicht bloß die äußere Schale dessen, was er längst ahnte, fast schon benennen konnte, und wogegen er sich gänzlich wehrlos wußte?
Sie war nicht länger bloß süß, seine Tochter. Sie sah immer reizender aus, immer hübscher, leuchtend, lockend – immer attraktiver. Die Wahrheit war: Sie irritierte ihn. Das Gefühl kannte er: von den Jungs, in Radlerklamotten auf ihren Fahrrädern, im Schwimmbad, auf dem steinernen Sitzrand am Alex im Sommer … Nein, das war nicht zu Ende zu denken.
Nüsse. Ich muß die Nüsse holen, dachte er, eine heroische Anstrengung, sich wieder auf Kurs zu bringen, sich zurück aufs Sofa zu zwingen, vor den Fernseher, vor Gottschalk, vor Gott und Mensch, die Lebenden und die Tote. Das Telefon klingelte. Eurydikes Hohn stöhnte aus dem Wohnzimmer: »Gehst … du … ran … Peter?«
»Klar, mach ich«, rief er zurück, froh darüber, daß seine Stimme sich nicht überschlug, daß man seinen trockenen Mund nicht hörte.
»Hallo?«
»Ja?«
Die Stimme, die sich meldete, jagte Peter Thiel einen großen Schrecken ein. Sie griff nach ihm, so meinte er, sie sprach von drüben her mit ihm, von dort, wo die Toten nicht mehr zurückkommen, denn sie gehörte einem Jungen, der den Stimmbruch gerade hinter sich hatte. Hals- und Stimmbruch, dachte Peter Thiel entsetzt, ein Opfer ruft mich an. Er hätte lachen mögen, oder schluchzen, vielleicht was dazwischen: Schluckauf? Aber dann löste der Schock sich auf, dank dem unsicheren Nachhaken des Anrufers:
»Hallo, ist dort Thiel? Spreche ich mit Peter Thiel?«
Wie in gewachste Tücher eingewickelt, blubberte Valeries Vater: »Joahmm … hier, hömm, spricht Peter Thiel.«
»Ich … Sie kennen mich nicht …«, sagte der Junge stockend, »… aber ich muß Ihnen was erzählen. Und bevor Sie was dazu sagen … hören Sie es sich zu Ende an. Bitte.«
»Ich höre.« Peter Thiel schloß die Augen.
»Es geht um ihre Tochter, Herr Thiel. Um Valerie.«
6 »Ich will es nicht wissen. Ehrlich, Stefanie, ich will es nicht hören.«
Dieter Fuchs klang gereizt. Seine tatsächliche Verfassung war viel wi dersprüchlicher, zugleich viel weniger dramatisch und viel verzweifel ter, als seine beherrschte Diktion verriet. Sein Spitzbart knisterte, demnächst, dachte Stefanie Mehring, würde er Funken spucken.
In der ordentlich geschnittenen, schwer beheizbaren und gut gelegenen Wohnung unterm Dach eines schönen Altbaus, die Stefanie und Dieter derzeit nach einigem Hin und Her denn doch zusammen bewohnten, hing der Haussegen schief. Der Grund dafür war Dieter so völlig klar wie selten etwas: weil Stefanie nicht aufhören wollte, von dem blöden Gör zu reden, nein, zu fantasieren, dem Mädchen, das Robert Rolf derzeit vor aller Augen dazu benutzte, seinen Ruf, seinen Verstand und überhaupt sein ganzes Leben an die Wand zu fahren.
Dieter saß in unergonomischer X-Bein-Position an seinem Schreibtisch.
Davor, auf dem Boden, lagen geöffnete Bücher, Kataloge und Magazine verstreut. Der Bildschirm hinter Dieter leuchtete mehlwurmfarben, neben dem Keyboard hatte der Kritiker die zerlesene Ausgabe einer Kunstzeitschrift aus dem
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