Fuer immer mein - Mechthild Kaysers erster Fall
vor, als wenn er über Nacht Schwerstarbeit geleistet hätte. Er drückte sich von der Bettkante hoch und schlurfte in sein kleines Badezimmer. Als er zum Pinkeln auf dem Klo saß, stellte er fest, dass er seine Schlafanzughose falsch herum anhatte. „Scheiß Tabletten“, sagte er leise zu sich selbst.
Mechthild Kayser war es nicht gewohnt, lange zu schlafen. Genauso wenig war sie daran gewöhnt, zu viel Alkohol zu trinken. Trotzdem war es in den vergangenen Jahren immer mal wieder vorgekommen. Jetzt rächte es sich zum wiederholten Mal, dass sie zu wenig Rücksicht auf sich nahm.
„Wider des besseren Wissens“, stöhnte sie und hielt sich ihren Kopf. Einige Stunden mehr Schlaf hätten ihren Kater sicherlich erträglicher gemacht. Aber es war nun mal so, wie es war. Sie quälte sich aus dem Bett, mischte sich in der Küche einen Aspirincocktail und hoffte auf Besserung. Der Morgen war kühl. Es war eben doch noch nicht Sommer. Sie zog sich einen Bademantel über und setzte sich in einen Sessel auf ihrem Balkon. Für einen kurzen Moment konnte sie sich daran erfreuen, dass sie ihn gestern für den Frühling hergerichtet hatte. Aber dann drückten sie ihre Kopfschmerzen in eine dumpfe Lethargie, und sie starrte teilnahmslos und das Ende ihrer Leiden erwartend einfach geradeaus auf die Rückfronten der an ihren Garten angrenzenden Häuser.
Das Viertel war noch nicht am Erwachen. Aus den verqualmten Kneipen drangen nach und nach die letzten Zecher der Nacht, erschrocken über die ihnen vorwurfsvoll entgegenschlagende Helligkeit. Vor dem Bistro Brasil hatte es eine Schlägerei gegeben. Wie Mechthild später den hausinternen Mitteilungen der Polizei entnehmen konnte, hatte ein zugekokster Postbeamter in seinem vermeintlichen Allmachtsrausch grundlos versucht, einen ehemaligen Anti-AKW-Kämpfer mit einem Tritt in die Genitalien niederzustrecken. Aber der kampferfahrene, heutige Soziologe konnte noch immer so einiges wegstecken, und der Postbeamte erlebte das, was Jahre vor ihm schon einige Polizisten erleben mussten und ihnen den Glauben an ihre Ausbildung in Selbstverteidigung genommen hatte.
Gegen Mittag und ziemlich durchgefroren noch immer im Sessel auf dem Balkon konnte Mechthild endlich wieder Entscheidungen treffen und ging duschen. Sie merkte, dass das Haarewaschen eigentlich noch ihre Kräfte überstieg, aber sie konnte sich zusammenreißen und war nachher froh, dass sie es zustande gebracht hatte.
Sie verließ das Haus und zerrte ihr Fahrrad durch die Pforte ihres Vorgartens. Dabei stellte sie sich recht ungeschickt an und blieb mehrmals mit den Pedalen irgendwo hängen. Wenn sie dabei einer gesehen hätte, würde der gleich bemerkt haben, dass sie gestern gezecht hatte, dachte sie bei sich. Aber sie schaffte es, glaubhaft elegant auf den Sattel zu kommen und fuhr eindeutig gerade los.
Die frische Luft tat ihr gut. Sie erreichte den Osterdeich und fuhr entlang der Weser bis zum Weserwehr. Einer in Beton neugebauten Weserquerung, die die frühere in das ehemalige Wasserkraftwerk integrierte Überführung ersetzt hatte. Auf der anderen Seite des Flusses musste sie sich entscheiden: große Runde oder lieber die kleine. Da sie heute ihren Kräften nicht so traute, entschied sie sich für den kürzeren Weg der Erholung und radelte Richtung Werdersee. Der auf dieser Weserseite gelegene künstliche See galt als Naherholungsgebiet und war zur Weser hin von unzähligen Kleingartenvereinen mit ihren Parzellen begrenzt. Am anderen Ufer stieg steil ein Deich empor, der sich schützend vor das dahinter befindliche Wohngebiet, die Neustadt, legte.
In der Stadt gab es ein ungeschriebenes Gesetz: Wer auf der einen Weserseite geboren war, zog niemals auf die andere. Nur sogenannte Zugezogene wechselten die Seiten. Woher diese Regel kam, wusste Mechthild nicht. Sie wusste nur, dass zu Zeiten der Räterepublik nach dem Ersten Weltkrieg die freiheitsliebenden Räteverbände von der Neustadtseite aus angegriffen wurden und an der alten Weserbrücke in Höhe der Altstadt erbitterten Widerstand leisteten. Vielleicht war das ein Grund. Vielleicht war diese Regel aber auch schon früher entstanden, und die Geschichte bewies damals nur einmal mehr, dass der anderen Weserseite nicht zu trauen war.
Oben auf dem Deich fuhr Mechthild an den Gebäuden der Bereitschaftspolizei vorbei. Hier hatte sie einmal ihre kriminalpolizeiliche Laufbahn begonnen, zu einer Zeit, als es für Frauen noch nicht möglich war, in den uniformierten
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