Fuer immer mein - Mechthild Kaysers erster Fall
gegenüber auch eingestehen, dass er oft falsch lag. Das war gar nicht so sehr darin begründet, dass er falsche Beobachtungen aufgenommen hatte, sondern dass er sie falsch interpretierte. Deswegen war er zurückhaltender geworden, vorsichtiger mit dem, was er herausgefunden zu haben schien. Vor einigen Jahren hatte er einen schweren Fehlschlag zu verarbeiten. Er hatte das niedersächsische Landeskriminalamt in einem Tötungsdelikt zum Nachteil eines sechsjährigen Jungen, bei dem sie einfach nicht weiterkamen, beraten und mit seinen Methoden einen Täter ermittelt und sich auf diesen konzentriert. Es stellte sich aber heraus, dass der Mann unschuldig war. Doch Schultze ließ nicht von ihm ab. Er war sich sicher, dass dieser Mann ein Mörder war. Nur war die vorliegende Tat nicht die richtige. Schultze war überzeugt, dass der Verdächtige einen anderen Mord begangen haben musste, aber darauf ließ sich auf Dauer keine Ermittlung begründen. Als ihm die Staatsanwaltschaft drohte, gegen ihn ein Strafverfahren wegen Verfolgung Unschuldiger einzuleiten, ließ er von dem Mann ab. Er kehrte nach Bremen zurück, erntete hier Unverständnis, Kopfschütteln und Hohn und beantragte eine einjährige Beurlaubung. Viele waren froh, dass er eine Zeit lang von der polizeilichen Bildfläche verschwand.
Schultze ging in ein italienisches Kloster, um sich besinnen und neu orientieren zu können. Seine dortigen Klosterbrüder auf Zeit standen seiner Art, spirituell zu ermitteln, wie sie es nannten, weit offener gegenüber. Sie glaubten, dass Gott den Menschen nie verlassen würde. Auch nicht einen Toten, denn er war immer in allem. Und im Zwiegespräch mit Gott könnte auch ein Zwiegespräch mit dem Leib oder genauer: der Seele eines Menschen stattfinden. Für die Mönche war es nur eine Frage der Kontemplation. Er lernte im Kloster Praktiken tieferer Meditation kennen und entwickelte für sich ein stärkeres Gefühl, Teil der Schöpfung zu sein und damit auch mit allem anderen verbunden zu sein. Er gewöhnte sich an, täglich in einen geistig-seelischen Austausch mit seiner Umgebung einzutreten und einen spirituellen Kontakt aufrechtzuerhalten. Sein Bedürfnis nach Transzendenz kam nach seiner Rückkehr in den Bremer Polizeidienst bei seinen Kollegen natürlich nicht ungeteilt positiv an. Zu oft wurde er dabei ertappt, wie er versonnen in seinem Büro saß und anscheinend völlig abwesend in den Raum starrte. Darum sorgte Schultze dafür, dass er ab diesem Zeitpunkt als streng gläubiger Katholik angesehen wurde. Das war im protestantischen Norddeutschland sowieso etwas, was man nicht wirklich nachvollziehen konnte und erlaubte ihm, eine gewisse Skurrilität an den Tag zu legen, die man ihm nachsah, da man auch keinen Konflikt wegen freier Religionsausübung provozieren wollte. Damit hatte er seine Ruhe. Trotzdem sah man ihn lange Zeit ein wenig schräg an, aber er meldete sich immer wieder mit guten und erfolgversprechenden Hinweisen in aktuellen Fällen an die jeweiligen Ermittler, die oft entscheidend für den weiteren Verlauf einer Tataufklärung waren, so dass er zwar seinen Ruf als verschrobenen Katholiken nicht loswurde, aber man ihn ernst nahm und großzügig über seine angeblich extremen Marotten hinwegsah.
Mechthild Kayser war sich nicht sicher, was sie von dem eben Gehörten halten sollte. Ein Rest lebendiger Seele in einer Leiche! Sie spürte die Gefahr, sich der Lächerlichkeit auszusetzen, wenn sie Schultzes Methode zu viel Aufmerksamkeit schenkte. Andererseits waren die Ermittlungen nicht gerade weit vorangekommen, so dass alles, was nach einem rettenden Strohhalm aussah, nicht von ihr ignoriert werden durfte. Immerhin war Schultze vom Polizeipräsidenten in ihr Ermittlungsteam beordert worden. Und er war ja auch noch nicht wegen Irrsinns aus dem Polizeidienst entlassen worden. Hilfesuchend richtete sie ihren Blick auf Ayse.
Ayse Günher ahnte gar nicht, was in den Köpfen von Schultze und ihrer Chefin vorgegangen war. Sie nahm Mechthilds Blick als Aufforderung, das Gespräch weiterzuführen. Immerhin hatten sie drei im Team die Aufgabe der Strategieplanung.
„Ja, also“, setzte sie völlig unvoreingenommen an, „das hört sich im ersten Moment ein wenig ungewöhnlich an. Aber mein Großvater hat mir von einem Derwisch in seinem Dorf erzählt, der im Zwiegespräch mit den Töchtern Allahs für Regen und gute Ernten sorgen konnte. Oder so ähnlich jedenfalls. Ich kann mich vielleicht auch nicht mehr so genau
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