Für immer untot
über den Sand, und seine Füße ließen kleine Abdrücke zurück, die das Wasser schnell wieder verschwinden ließ. Der Vogel lief über den nassen Sand, wenn sich die Wellen zurückzogen, suchte nach etwas Fressbarem und wich rasch zurück, wenn das Wasser wieder heran rauschte. Schließlich hatte er genug von diesem Spiel, hüpfte zu mir und hoffte, dass ich ihm eine Leckerei anbot. Ich blinzelte, und als ich wieder hinsah, saß ein attraktiver blonder Mann in einer zu kurzen Tunika neben mir im Sand. Für einen Moment dachte ich, er hätte den Vogel unter sich zerquetscht, und dann begriff ich.
»Ich bin alles, Herophile«, sagte der Mann und lächelte. »Die Wellen, der Sand und natürlich die Sonne. Aber in dieser Gestalt ist es leichter, mit dir zu plaudern.«
»Ich heiße Cassandra!«, erwiderte ich scharf.
Er nannte mich nach der zweiten Pythia von Delphi, seines alten Schreins und dem Ort unserer ersten Begegnung. Angeblich war es ein Herrschaftstitel, aber ich benutzte ihn nicht gern, solange ich nicht wusste, wie man den damit in Zusammenhang stehenden Job machte. Ganz zu schweigen davon, dass ich den Namen abscheulich fand.
»Wo hast du gesteckt?«, fragte ich. »Erinnerst du dich an dein Versprechen, mich auszubilden? Eine ganze Woche hast du mich hängen lassen! Ist dir eigentlich klar, wie nahe ich daran war, alles zu vermasseln?«
»Ja. Deshalb habe ich dich da rausgeholt.« Er hob den Blick von einem Algenstrang, an dem er gezupft hatte. Im Gegensatz zu unserer letzten Begegnung sah er nicht wie nach einem Bad in Goldstaub aus, doch auch diesmal konnte ich sein Gesicht nicht erkennen – es zeigte sich nur als helles Oval. Majestätisch fühlte sich das Gespräch mit ihm nicht an, nur seltsam, wie der Versuch, mit einer Lampe zu reden. »Auf diese Weise kann es nicht weitergehen. Gegen den Geis muss etwas unternommen werden – er ist eine Ablenkung«, befand er.
»Eine Ablenkung?« Ich kannte viele Möglichkeiten, den Geis zu beschreiben, und dieses Wort stand nicht auf der Liste. »Mircea stirbt, und ich bin wahrscheinlich als Nächste dran!«
»Nicht wenn du den Codex findest. Er enthält die Antwort, die du suchst.«
»Ich weiß! Aber ich weiß nicht, wo der Codex ist und wie ich ihn finde. Jede Spur, die wir bisher entdeckt haben, führte in eine mit Gefahren gepflasterte Sackgasse! Oder hast du gestern in Paris nicht zugesehen?«
Der blonde Mann hatte den Algenstrang geflochten und legte ihn mir wie ein Armband ums Handgelenk. »Wenn es einfach wäre, könnte man nicht von einem Test sprechen.«
»Ich brauche keine weiteren Tests mehr, sondern Hilfe!«
»Die Hilfe, die du brauchst, hast du bereits.«
»Dann muss ich sie wohl übersehen haben!«
»Du wirst finden, was du benötigst, wenn du es benötigst. Das ist vielleicht deine größte Gabe, Herophile. Du ziehst Leute an.«
»Ja, vor allem solche, die mich töten wollen.«
Der blonde Bursche lachte, als wäre mein drohendes Ableben die komischste Sache, die er heute gehört hatte. »Ich habe versprochen, dich auszubilden. Nun gut, hier ist deine erste Aufgabe. Finde den Codex und neutralisiere den Geis, bevor er noch mehr Komplikationen verursacht.«
»Und wenn mir das nicht gelingt?«
»Ich habe volles Vertrauen in dich.«
»Damit stehst du ziemlich allein da.«
»Du wirst erfolgreich sein, da bin ich sicher. Und wenn nicht. .« Er zuckte unbekümmert mit den Schultern. »Dann hast du dein Amt nicht verdient.«
Und damit kehrte ich zurück. Von einem Augenblick zum anderen waren meine Hände wieder um starke, nackte Schultern geschlossen, und die Finger rutschten über schweißnasse Haut. Ich war an das jähe Kommen und Gehen von Visionen gewöhnt, aber selbst für mich kam dieser abrupte Wechsel ziemlich überraschend. Insbesondere weil Mircea noch immer mein Blut trank und alles wirklich erstaunlich war.
Ich hatte mich noch nie so sehr verbunden gefühlt, so verankert, jemandem so nahe, und ich wollte, dass es für immer so weiterging. Und genau das schien der Fall zu sein, begriff ich nach einem Moment. Mein Herzschlag donnerte mir in den Ohren, ich hatte Flecken vor den Augen, und das Atmen fiel mir immer schwerer, aber Mircea hörte nicht auf.
»Lass mich los, Mircea«, sagte ich so deutlich, wie es mir mit Reißzähnen im Hals möglich war. Nichts geschah, abgesehen davon, dass seine Hand an meiner Hüfte noch etwas mehr Druck ausübte. Fiebrige Hitze ging von ihr aus.
»Mircea! Lass mich los, wenn du mich nicht
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