Fürchte deinen Nächsten!
hatte.
Eine seltsame Stille legte sich über das Zimmer. Sie hörte nur ihr eigenes Atmen. Zunächst wagte sie nicht, sich zu bewegen. Nur die Augen rollte sie und versuchte, in die Ecken zu schielen, um zumindest einen Hinweis zu finden.
Es gab ihn nicht.
Delany ließ sich nicht mehr blicken. Er war untergetaucht in eine andere Dimension.
Das konnte die Frau nicht begreifen. Marcella Ash war für die menschliche Seele zuständig, aber keine Expertin auf dem metaphysischen Gebiet, von dem sie nie viel gehalten hatte. Judas Delany hatte sie eines Besseren belehrt.
Deshalb stellte sie sich auch die Frage, wo er sich befinden konnte. War er tatsächlich in die Hölle abgetaucht? Hielt er sich beim Teufel auf? Oder hatte sich die Hölle hier im Zimmer ausgebreitet, vertreten durch Judas Delany?
Sie wollte nicht mehr nackt sein. Ihre Kleidung lag hinter dem Kopfende der Couch zusammengeknüllt. Sie wollte aufstehen und sich anziehen.
Es blieb beim Versuch.
Marcella hatte nichts gesehen und nichts gehört. Aber sie spürte den kalten Druck an ihrem Hals, auch die Schärfe, einen kurzen stechenden Schmerz, und als sie an sich herabschaute, da sah sie die beiden dünnen Blutfäden, die an ihrem Hals entlangliefen und bereits die Brüste erreicht hatten.
»Tu nie etwas, was ich nicht will!« flüsterte die Stimme aus dem Unsichtbaren.
»Okay, okay. Ist schon gut.«
»Leg dich wieder hin!«
Marcella gehorchte.
»So ist es gut. Und jetzt warten wir gemeinsam darauf, daß du und deine Freunde bald tot sein werden…«
***
Gefahren wie die Teufel waren wir zwar nicht, aber schon schnell, und da hatten uns auch keine Tempolimits gestört. Es wäre vertane Energie gewesen, einen Plan auszudenken. Wir kannten einfach zu wenig. Wir wußten nicht, wie die Wohnung aufgeteilt war und in welcher Lage wir Marcella Ash finden würden. Wir konnten nur hoffen, daß Delany sie noch nicht getötet hatte.
Etwas mehr als fünfundzwanzig Minuten benötigten wir trotzdem, um das Haus zu erreichen. Es gehörte zu einem Neubaugebiet und stand inmitten von Grünanlagen. Hier fanden wir sogar einen Parkplatz, stiegen aus und sahen uns um.
Die Hausnummern an den hellen Fassaden waren durch Außenlichter angestrahlt, und auch in den meisten Fenstern zeichnete sich das warme Licht der Abendbeleuchtung ab.
Wir fanden das Haus sehr schnell und näherten uns trotz der Eile vorsichtig.
Sechs Parteien wohnten hier. Anhand des Klingelbretts fanden wir heraus, daß wir in den ersten Stock mußten.
Leider war die Haustür verschlossen. Durch die Milchglasscheibe gelang uns auch kein Blick in den Flur, aber wir mußten so schnell wie möglich hinein.
Suko klingelte an einer Parterre-Wohnung.
Jemand drückte auf. Wir betraten das Haus, gingen eine vierstufige Treppe hoch und schalteten das Flurlicht ein. Eine junge Frau mit einem Kind an der Hand schaute uns mißtrauisch an. Das Mädchen fragte: »Wer sind die Männer?«
Ich lächelte und nahm der Situation die Spannung. Die Frau, die eine Schürze trug, sah dann auf meinen Ausweis. »Es tut mir leid, daß wir Sie gestört haben…«
»Po… Polizei?«
»Ja.«
»Aber ich…«
»Wir wollten nur ins Haus.«
»Was ist denn los? Was ist…?«
»Nichts, was Sie beunruhigen könnte. Gehen Sie nur in Ihre Wohnung zurück, und vergessen Sie uns.«
»Gut«, sagte sie. »Gut.« Dann zog sie sich mit ihrer kleinen Tochter zurück.
»Okay?« fragte ich Suko.
Er stand schon an der Treppe und nickte mir zu. Sein Gesicht war angespannt. Vor mir stieg er mit möglichst leisen Schritten höher. Sein Gesicht zeigte die volle Konzentration, die auch so bleiben mußte, um der zu erwartenden Hölle zu entkommen. Es würde nur noch das Problem geben, in die Wohnung zu gelangen. Zur Not mußten wir die Tür aufbrechen.
Das allerdings konnten wir vergessen, denn als wir die erste Etage erreichten, sahen wir, daß die Wohnungstür nur angelehnt, aber nicht geschlossen war.
Wir wurden erwartet.
»Judas ist sich seiner Sache sehr sicher!« flüsterte Suko mir zu.
»Er wird seine Gründe haben.«
»Marcella?«
»Hoffentlich nicht.«
Wir sprachen nicht über die Unsichtbarkeit des Mannes, und wir redeten auch nicht darüber, daß er uns aus diesem anderen Zustand hervor angreifen konnte, ohne gesehen zu werden. Es war für uns lebensgefährlich, die Wohnung zu betreten, aber es gab keine andere Möglichkeit, ihn zu stoppen und Marcella zu retten, falls sie überhaupt noch lebte.
Mit der linken Hand
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