Fundort Jannowitzbrücke
dem Werksgelände, ehe der Märzwind sie davontrug. Die Luft war kalt und roch nach Erde. Sie glaubte den nahen Frühling riechen zu können.
Ute stieg von ihrem Rad und atmete tief durch. Vor ihr lagen die S-Bahnbögen der Jannowitzbrücke, dahinter einzelne Verwaltungsgebäude und weiter entfernt die mächtigen Plattenbauten, die in den Himmel ragten. Sie betrachtete die Häuser, die Menschen und den Verkehr. Normalerweise genoß sie diese Momente. Es waren die letzten Minuten, die sie vor der Schicht für sich allein hatte.
Doch dieses Mal fühlte sie nichts. Sie konnte nur an Bettina denken und daran, daß sie den nahenden Frühling nicht mehr riechen konnte. Daß für sie jetzt alles vorbei sein sollte.
Nach einer Weile stieg sie wieder auf ihr Rad und fuhr weiter. Den Alexanderplatz konnte sie bereits von weitem sehen. Sie versuchte, nicht über die Parkplätze zu blicken, die neben ihr lagen, sondern konzentrierte sich ganz auf die helle Leuchtreklame, die die gleiche Farbe hatte wie die Uniform, die sie unter ihrem Mantel trug. Nur noch ein paar Minuten, dachte sie, dann würde sie hinter Kasse 7 stehen, ein Lächeln aufsetzen und alles andere vergessen. Bis zum Feierabend.
3
Michael Schöne saß aufrecht da und strich sorgfältig über die Unterlagen, die vor ihm auf dem Vernehmungstisch lagen. Du mußt dich auf deine Fragen konzentrieren, ermahnte er sich.
Doch das erwies sich als schwierig. Olaf Nowack brachte ihn vollends durcheinander. Die aufgewühlten Gefühle des jungen Mannes ergriffen ihn. Er spürte deutlich die verzweifelte Wut, den Haß und die Angst – Gefühle, die ihm wohlbekannt waren und sonderbare Erinnerungen in ihm wachriefen.
Er atmete durch, doch die Bilder aus seiner Vergangenheit ließen sich nicht verdrängen. Die enge Küche mit dem Schimmel an den Wänden, die angebrannte Scheibe Toast auf dem schmutzigen Küchenfußboden, und dann die Schreie seiner Mutter, das Blut, das überall war. Michael mußte all seine Kraft aufwenden, um die Bilder beiseite zu schieben.
»Wir versuchen Ihnen zu helfen«, sagte er zu Olaf Nowack. Der Klang seiner eigenen Stimme gab ihm Kraft, und die Bilder verschwanden endlich. »Bitte vergessen Sie das nicht. Wir versuchen den Mörder Ihrer Schwester zu fassen.«
Olaf Nowack schnaubte verächtlich und verschränkte die Arme.
Doch Michael hatte seine Sicherheit zurückgewonnen, und damit war Olaf Nowack nur noch ein Zeuge, der in einem Mordfall vernommen werden mußte. Er sah sich den jungen Mann näher an. Niemals hätte er das Alter des Zweiundzwanzigjährigen einschätzen können. Das breite und von Sommersprossen übersäte Gesicht hätte auch einem Sechsjährigen gehören können. Doch seine Körpergröße von fast einem Meter neunzig, die breiten Schultern und der aggressive Blick machten diesen Eindruck zunichte.
Michael überflog die Notizen, die er sich vor der Vernehmung gemacht hatte. Er zog einen Computerausdruck vor und legte ihn auf den Tisch.
»Könnten Sie sich diese Namensliste einmal ansehen?« fragte er.
»Was für Namen?«
»Das sind die Namen der Personen, die wir bislang aus dem Umfeld Ihrer Schwester befragt haben.«
Er ließ Olaf Nowack einen Moment Zeit, damit er die Liste lesen konnte.
»Hauptsächlich sind es Kolleginnen und Kollegen aus dem Burger Point«, sagte er. »Dazu kommen noch ein paar Freundinnen und die Familie.«
Der rothaarige Mann gab ihm die Liste zurück. »Und?«
»Gibt es weitere Personen, mit denen Ihre Schwester befreundet war? Fehlen irgendwelche Namen?«
Olaf zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung.«
»Irgendwelche Bekannten Ihrer Schwester?«
Der junge Mann schüttelte den Kopf und starrte auf die Tischplatte.
»Ihre Schwester befand sich bei dem Überfall auf der Alexanderstraße kurz vor der Jannowitzbrücke«, sagte Michael. »Das wirft eine Frage auf. Wäre sie auf dem Weg nach Hause gewesen, dann hätte sie in die Grunerstraße und nicht in die Alexanderstraße einbiegen müssen.«
Olaf sah ihn ausdruckslos an, dann nickte er leicht.
»Können Sie sich vorstellen, wohin sie unterwegs war?«
Olaf schüttelte wie unbeteiligt den Kopf und zuckte mit den Schultern.
»Niemand von ihren Freunden wohnt in dieser Gegend«, sagte Michael. »Wollte sie vielleicht in eine Diskothek nach Kreuzberg?«
»Was weiß ich«, sagte der junge Mann mit aggressivem Unterton.
»Hat sie Ihnen gegenüber jemals eine Disko oder etwas ähnliches erwähnt, zu der sie diesen Weg hätte nehmen
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