Fundort Jannowitzbrücke
erschöpft zurück. Ihre Mutter hatte nie aufgehört, sie für alles verantwortlich zu machen. Sie hatte sich nie gefragt, weshalb ihre Tochter die Familie verlassen hatte. Warum es ihr unerträglich war, bei ihnen zu bleiben.
Doch dieses Mal war Barbara zu müde für einen Streit. Ihre Mutter sollte gehen, anstatt ihr Vorwürfe zu machen. Sie brauchte ihre Kräfte. Es war ein wichtiger Tag. In wenigen Minuten würden sich die Filialen des Berliner Videorings öffnen.
Sie stand auf und ging wortlos zur Tür. Ihre Mutter sah stumm zu ihr hinauf. Sie machte keine Anstalten, die Wohnung zu verlassen. Sie blieb einfach dort sitzen, die Hände in ihrem Schoß.
»Wie geht es diesem Mädchen?« fragte sie schließlich. »Geht es ihr gut?«
Barbara glaubte sich verhört zu haben. Sprach ihre Mutter sie tatsächlich darauf an?
»Wie hieß sie noch?« fragte Irmgard weiter.
»Maria«, sagte Barbara kühl.
»Maria«, wiederholte sie nachdenklich. »Ein so schöner Name.« Sie lächelte ihrer Tochter zu. »Seid ihr noch befreundet?«
Befreundet, dachte Barbara bitter. Ihr lag bereits ein Kommentar auf der Zunge. Doch ihre Mutter sah ängstlich zu ihr hinauf. Sie bemüht sich, dachte sie. Es war ein gut gemeinter Versuch. Das erste Mal, daß Irmgard Nowack das Thema nicht verdrängte. Das erste Mal, daß sie sichtlich bemüht war, es anzusprechen.
Barbara atmete durch. Sie schluckte den Kommentar hinunter.
»Nein«, sagte sie. »Wir sind kein Paar mehr. Das sind wir schon lange nicht mehr.«
Ihre Mutter wirkte überrascht. »Aber was ist denn passiert?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Was soll schon passiert sein? Die Liebe war einfach weg. Eines Tages war sie verschwunden.«
»War es deine Liebe, die so plötzlich verschwunden war?«
Barbara glaubte, einen besorgten Tonfall in ihrer Stimme gehört zu haben.
Es ist vorbei, sagte sie sich. Sie trauerte Maria nicht mehr nach. Es war alles gesagt. Sie hatte seit Monaten nicht mehr darüber nachgedacht. Sie hatte damit abgeschlossen.
Dennoch schnürte es ihr die Kehle zu. Plötzlich konnte sie ihre Trauer nicht mehr zurückhalten. Sie drang tief aus ihrem Inneren hervor. Doch sie wollte es nicht zulassen, nicht in diesem Moment. Nicht, während ihre Mutter in ihrer Küche saß.
» Sie hat gesagt, daß sie mich nicht mehr liebt«, brachte sie mit erstickter Stimme hervor. »Mich hat niemand gefragt.«
Ihre Mutter stand plötzlich neben ihr. Sie trat so nah an sie heran, wie sie es seit Jahren nicht mehr getan hatte. Zaghaft hob sie ihre Hand und strich ihrer Tochter über die Wange.
»Es ist gut«, flüsterte sie. »Es ist gut.«
Barbara kämpfte dagegen an. Doch mit einem Mal spürte sie, wie groß ihre Sehnsucht nach Trost war. Wie sehr sie sich danach sehnte, der Trauer freien Lauf zu lassen, aufgehoben zu sein in den Armen eines anderen Menschen.
»Weine ruhig, mein Kind«, hörte sie Irmgard flüstern.
Und plötzlich war es wie früher, lange vor der Zeit, in der sie erwachsen geworden war. Nur für einen Augenblick wollte sie den ewigen Streit vergessen und alles hinter sich lassen.
Sie wußte nicht, wie lange sie im Arm ihrer Mutter gelegen hatte. Doch irgendwann blickte sie auf. Durch den feuchten Schleier ihrer Augen sah sie ganz deutlich das blaue Stück Plastik, das auf ihrem Küchentisch lag.
Sonja Strahl wühlte in den Zeitungen auf dem Couchtisch und zog die Wochenendausgabe der Berliner Zeitung hervor. Ein paar Schnipsel klebten am Deckblatt, die sie sorgfältig abnahm. Dann blätterte sie die Zeitung durch.
Sie suchte in den Überschriften nach dem Wort »Polizei«, um es auszuschneiden und auf eine Pappe zu kleben. Sonja bastelte mit ihrer Freundin Mascha an der Einladung für das Ehemaligentreffen der Reinhold-Burger-Oberschule in Pankow. Sie hatten sich für die Einladung etwas Besonderes ausgedacht. Sie sollte wie das Schreiben eines Erpressers aussehen, deshalb die Zeitungsschnipsel. »Damit auch alle kommen!« hatte Mascha lachend gemeint.
Auf dem Deckblatt des Berlin-Teils fand Sonja das gesuchte Wort, es war Teil der Überschrift zu einem Interview.
»Da kann die Polizei nichts machen!«
Seit Monaten sucht die Berliner Polizei vergeblich nach einem Frauenmörder. In der Nacht von Donnerstag auf Freitag überfiel er sein bislang viertes Opfer, eine junge Frau aus Kreuzberg. Bernd Weinert, Kriminalist an der Universität Hamburg, über die schwierige Suche nach einem Serientäter.
Sonja sah auf und blickte zur Tür. Mascha war auf
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