Fundort Jannowitzbrücke
die Toilette verschwunden. Sie würde eine Zeitlang wegbleiben. Also lehnte sich Sonja in der Couch zurück und begann zu lesen.
Die Zeitungen waren in den letzten Tagen wieder voller Berichte über den sogenannten Würger von Pankow, nachdem sie alle ein halbes Jahr lang nichts von ihm gehört hatten. Es war damals ein Schock gewesen, von dem sie sich bis heute nicht erholt hatten.
Jacqueline würde bei diesem Jahrgangsstufentreffen nicht mehr dabei sein, sie war das erste Opfer dieses Monsters gewesen. Weder Sonja noch Mascha hatten sie besonders gut gekannt, die Mitschülerin aus der Parallelklasse. Sie war unauffällig und schüchtern gewesen. Eines der Mädchen, deren Existenz sie nach kurzer Zeit vergessen hatten. Wäre da nicht dieser sinnlose Mord gewesen.
... bei Mördern handelt es sich in der Regel um Menschen aus dem direkten sozialen Umfeld. Serientäter bilden da eine Ausnahme. Sie schlagen zu, ohne eine vordeliktische Beziehung zum Opfer zu haben.
Herr Weinert, was ist das Tatmotiv von Serientätern?
Das Motiv liegt nicht im Beziehungsgeflecht mit dem Opfer. Es liegt vielmehr in ihrer geschundenen und verkümmerten Seele. Sie beginnen zu morden, um die Bedürfnisse dieser Seele zu befriedigen. Gewissen und Mitgefühl sind bestenfalls noch fragmentarisch bei ihnen ausgebildet ...
Die Polizei hatte die gesamte Schule auf den Kopf gestellt. Es wurden alle befragt, die mit Jacqueline Kontakt gehabt hatten. Wochenlang war die ehemalige Schülerschaft ausfindig gemacht worden. Doch offenbar hatte es nichts gebracht. Eine Spur hatte sich nicht ergeben.
Sonja hatte bei den Vorbereitungen zur Feier darüber nachgedacht, ob es nicht besser wäre, alles abzusagen. Es fühlte sich nicht richtig an, nach Jacquelines Tod gemeinsam zu feiern. Zumal ihr Mörder noch nicht gefaßt war. Doch Mascha meinte, daß sie einfach auf der Feier darüber sprechen sollten. »Dieser schreckliche Mensch wird mich nicht davon abhalten, meine alten Leute wieder zu treffen«, sagte sie. »Und wir können schließlich nichts dafür, daß die Polizei nicht weiterkommt.«
Sonja suchte weiter unten im Interview nach den Strategien der Polizei, mit denen sie den Serientäter zur Strecke zu bringen hoffte. Offenbar waren Psychologen beauftragt worden, ein Täterprofil zu entwickeln.
... das alles weist darauf hin, daß er zurückgezogen und kommunikationsgestört lebt, inkompetent ist in zwischenmenschlichen Beziehungen und bislang keine sexuellen Kontakte herstellen konnte. Dies alles sind nur kleine Mosaiksteinchen. Doch je mehr die Polizei davon findet, desto deutlicher wird das Bild des Täters.
Sie haben die Aussagekraft der ersten Tat angesprochen. Sie liegt inzwischen sieben Monate zurück. Sind nicht längst alle Spuren verfolgt?
Das ist richtig. Die Ermittlungen und das Profil haben nicht zum Täter geführt. Dennoch weist jeder Tatort neue Spuren auf, die in Verbindung mit den bisherigen Erkenntnissen weiterführen können. Darüber hinaus können Hinweise aus der Bevölkerung auch nach einem halben Jahr noch eingehen. Die Polizei glaubt zu wissen, daß sich das erste Opfer in seinem näheren Umfeld befunden hat. Zudem soll der Täter bereits vor dem ersten Mord Frauen belästigt haben. Wenn er niemandem aufgefallen ist, kann die Polizei nichts machen. Dann bleibt nur das mühsame Erstellen des Mosaiks und die Hoffnung, daß es irgendwann zum Täter führen wird...
Sonja wurde unterbrochen, als Mascha ins Zimmer zurückkehrte.
»An die Arbeit, du Träumerle!« rief sie ihr entgegen. »Ich will heute noch fertig werden.«
Sie warf sich zu ihrer Freundin auf das Sofa und sah über ihre Schulter.
Sonja seufzte. »Hier ist nur wieder ein Artikel über Jacqueline.«
Maschas Lächeln verschwand. »Leg ihn weg«, sagte sie. »Wir wollen nicht mehr daran denken.«
Sonja starrte jedoch weiter auf die Zeilen des Interviews. Sie wurde den sonderbaren Verdacht nicht los, der beim Lesen in ihr entstanden war.
»Hör mal, was sie über den Täter sagen«, meinte sie. »Er ist kontaktgestört, lebt zurückgezogen, hat früher schon Frauen belästigt, schafft es nicht, sexuelle Beziehungen aufzunehmen. Und er soll aus dem Umfeld von Jacqueline stammen.«
Mascha blickte verständnislos. Dann hielt sie sich erschrocken die Hand vor den Mund. »Du meinst, es war dieser Typ aus unserer Klasse?«
»Ich habe keine Ahnung. Aber es würde doch alles passen.«
Mascha dachte darüber nach. Ihre anfängliche Verunsicherung legte sich
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