Fundort Jannowitzbrücke
Er wirkte überhaupt nicht wie ein gewalttätiger Mensch. Seine vorsichtigen Bewegungen und die leicht gebeugte Haltung wirkten eher mitleiderregend. Er sah aus wie ein Junge, der stets von allen gehänselt wurde.
Stop, ermahnte sie sich. Sie mußte alles beiseite schieben. Sie durfte nicht zögern. Sie würde ihn töten, egal wie er aussah, und sie würde es jetzt tun. Sie riß sich zusammen, und die Ruhe kehrte zurück.
Tobias verließ die Kammer und erschien kurz darauf in der Küche. Er hatte einen Koffer unter dem Arm, den er auf dem Küchentisch abstellte. Er öffnete ihn, verschwand wieder und kehrte mit einem Armvoll Wäsche zurück, die er in den Koffer legte.
Er will fliehen! schoß es Barbara durch den Kopf. Er mußte etwas erfahren haben. Aus irgendeinem Grund ahnte er, daß sich eine Schlinge um seinen Hals legte. Barbara fragte sich, ob die Polizei doch mehr wußte, als sie vorgab.
Sie beobachtete Tobias eine Zeitlang, wie er durch die Räume lief und Dinge zusammentrug, um sie in den Koffer zu legen. Dann sah sie sich seinen Balkon näher an. Er schwebte etwa eineinhalb Meter über der Erde. Sie würde problemlos über die Brüstung klettern und in die Küche schlüpfen können.
Erst wartete sie ab, bis Tobias die Küche verließ und im vorderen Teil der Wohnung verschwand, dann trat sie mit schnellen Schritten aus ihrem Versteck und lief zu der Brüstung.
Der Balkonboden reichte ihr lediglich bis zur Brust. Sie zog sich hoch, schwang ein Bein über die Brüstung und fand auf der anderen Seite Halt.
Von Tobias war nichts zu sehen. Mit einer schnellen Bewegung schlüpfte sie durch die offene Balkontür. Sie sah sich kurz in der geräumigen Küche um und verschwand sofort hinter dem Vorhang, der sich leicht im Abendwind bewegte.
In ihrem Versteck tastete sie vorsichtig ihren Hosenbund ab, zog die Pistole hinter ihrem Gürtel hervor und entsicherte sie. Sie hielt sie eng an ihrem Körper und atmete durch. Dann nahm sie eine Position hinter dem Vorhang ein, von der aus sie die offene Tür zum Flur sehen konnte. Sie wollte warten, bis er in die Küche zurückkehrte.
Als sie dann den Schatten hinter sich bemerkte, war es bereits zu spät. Blitzartig drehte sie sich um. Doch Tobias Wink war schneller. Er hatte sie kommen sehen, schoß es ihr durch den Kopf. Er hatte sie kommen sehen und ihr eine Falle gestellt. Nun stand er über ihr, seine Hand zur Faust geballt. Und er schlug zu, bevor sie reagieren konnte. Sie spürte seinen harten Schlag auf ihrer Schulter. Die Pistole rutschte ihr aus der Hand, fiel zu Boden und schlitterte über die Holzdielen. Barbara sah ihr wie gelähmt hinterher. Da traf sie bereits der nächste Schlag. Sie spürte einen dumpfen Aufprall am Hinterkopf. Eine Welle des Schmerzes fuhr durch ihren Körper, dann rutschten ihre Beine zur Seite weg, und der harte Holzboden raste auf sie zu.
19
Wolfgang startete den Dienstwagen und fuhr ihn aus der alten Remise heraus, die vor Jahren zu einem Einstellplatz umgebaut worden war. Der Schatten seiner Kollegin huschte durchs Treppenhaus, bis sie schließlich die Tür zum Hof aufstieß und ihm entgegenlief. Auf ihrem Arm wippte ein Stapel Papier, der Ausdruck aus ihrem Büro. Offenbar hatte sie in den Datenbanken des LKA einiges über Wink ausfindig machen können.
Wolfgang beugte sich zur Seite und stieß die Beifahrertür auf. Anke ließ sich auf den Sitz fallen und seufzte.
»Das meiste sind Jugendsachen«, sagte sie atemlos. »Aber einmal wurde er nach dem Erwachsenenstrafrecht verurteilt, und somit ist nach Ablauf der Aufbewahrungsfrist nichts aus den Datenbanken gelöscht worden, wie es sonst bei Jugendlichen gemacht wird.«
»Er ist doch zweiundzwanzig Jahre alt, oder irre ich mich? Ist das alles schon so lange her?«
Sie schüttelte den Kopf. »Die Richter haben Reifeverzögerung diagnostiziert und so in einigen Fällen die Anwendung des Jugendstrafrechts gerechtfertigt. Die letzte Straftat liegt ein Jahr zurück.«
Wolfgang schaltete in den ersten Gang und fuhr durch die Toreinfahrt auf die Straße.
»Und weiter?«
Sie rückte den Papierstapel auf ihrem Schoß zurecht. »Ich habe es mir selbst noch nicht angesehen.« Sie begann in den Unterlagen zu blättern, während Wolfgang den Weg nach Pankow einschlug.
»Also, das schwerste Urteil brachte ihm ein Jahr Jugendhaft mit anschließenden Bewährungsauflagen ein. Trotz der Schwere des Deliktes wurde seine Kooperation mit der Polizei als besonders mildernd
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