Funke, Cornelia
Schichten aus Blättern um einen sterblichen, rottenden Kern. Sie
hatte sich das Kleid nach einem der Gemälde schneidern lassen, die in dem
Schloss des toten Generals gehangen hatten. Kami'en hatte es oft so gedankenverloren
betrachtet, als zeigte es eine Welt, nach der er suchte. Der Stoff hätte für
zehn Kleider gereicht, aber sie liebte das Rascheln der Seide und ihre kühle
Glätte auf der Haut. »Keine Nachricht von Hentzau?«
Als ob sie
die Antwort nicht wüsste. Aber warum hatten auch ihre Motten den, den sie
suchte, immer noch nicht gefunden? Sie sah ihn doch so deutlich. Als müsste sie
nur die Hand ausstrecken, um seine Jadehaut unter den Fingern zu spüren.
»Hentzau
wird ihn finden. Falls es ihn gibt.« Kami'en trat hinter sie. Er zweifelte an
dem, was sie in ihren Träumen sah, aber nicht an seinem Jaspisschatten.
Hentzau.
Noch jemand, den sie zu gern getötet hätte. Aber seinen Tod hätte Kami'en ihr
noch weniger verziehen als den seiner künftigen Braut. Er hatte seine eigenen
Brüder getötet, wie die Goyl es oft taten, doch Hentzau war ihm näher als ein
Bruder. Vielleicht sogar näher als sie.
Auf dem
Zugfenster verschmolzen ihre Spiegelbilder miteinander. Sie atmete immer noch
schneller, wenn er neben ihr stand. Woher kommt die Liebe?
»Vergiss
den Jadegoyl und deine Träume«, flüsterte er und löste ihr das Haar. »Ich
schenke dir neue. Sag mir nur, welche.«
Sie hatte
Kami'en nie erzählt, dass sie auch ihn zuerst in ihren Träumen gefunden hatte.
Es hätte ihm nicht gefallen. Weder Menschen noch Goyl lebten lange genug, um
zu begreifen, dass das Gestern ebenso aus dem Morgen geboren wurde wie das Morgen
aus dem Gestern.
23
IN DER FALLE
Jacob war
es, als ritte er in seine eigene Vergangenheit, als sie die Schlucht
erreichten, durch die er schon einmal ins Tal der Feen gekommen war. Drei
Jahre sind eine lange Zeit, aber alles schien unverändert: der Bach, der am
Grund der Schlucht floss, die Fichten, die sich in die Hänge krallten, die
Stille zwischen den Felsen ... Nur seine Schulter erinnerte ihn daran, dass
seither viel geschehen war. Sie schmerzte, als nähte der Schneider sich
tatsächlich Kleider aus seiner Haut.
Valiant
saß vor ihm auf dem Pferd und blickte sich immer wieder zu ihm um.
»Oh, du
siehst wirklich schlimm aus, Reckless!«, stellte er nicht zum ersten Mal mit
unverhohlener Schadenfreude fest. »Und das arme Mädchen starrt schon wieder zu
dir herüber. Bestimmt hat sie Angst, dass du vom Pferd fällst, bevor ihr
Liebster seine Haut zurückhat. Aber keine Sorge. Wenn du tot und dein Bruder
ein Goyl ist, werd ich sie trösten. Ich hab eine Schwäche für Menschenfrauen.«
So ging
das, seit sie aufgebrochen waren, aber Jacob war zu betäubt vom Fieber, um
etwas zu erwidern. Selbst Wills Worte in der Höhle drangen nicht mehr durch den
Schmerz und er sehnte sich nach der heilenden Luft der Feen inzwischen ebenso
sehr für sich wie für seinen Bruder.
Es ist nicht mehr weit, Jacob. Du musst nur noch durch die Schlucht und
dann bist du in ihrem Tal.
Clara ritt
gleich hinter ihm. Will trieb sein Pferd ab und zu an ihre Seite, als wollte er
sie vergessen lassen, was in der Höhle geschehen war, und auf Claras Gesicht
kämpfte die Liebe mit der Angst. Aber sie ritt weiter.
Wie er
selbst. Und Will.
Und der
Zwerg konnte sie alle immer noch betrügen.
Die Sonne
stand bereits tief und zwischen den Felsen wuchsen die Schatten. Der schäumende
Bach, an dem sie entlangritten, war so dunkel, als schwemmte er die Nacht in
die Schlucht, und sie waren noch nicht weit gekommen, als Will plötzlich das
Pferd zügelte.
»Was ist
los?«, fragte Valiant beunruhigt. »Es sind Goyl hier.« Aus Wills Stimme war
nicht die Spur von Zweifel zu hören. »Sie sind ganz in der Nähe.«
»Goyl?«
Valiant warf Jacob einen hämischen Blick zu. »Bestens. Ich verstehe mich sehr
gut mit ihnen.«
Jacob
presste ihm die Hand auf den Mund. Er ließ der Stute die Zügel gehen und
lauschte, aber das Rauschen des Baches übertönte alle anderen Geräusche. »Tut
so, als tränktet ihr die Pferde«, flüsterte er den anderen zu.
»Ich
rieche sie auch«, zischte Fuchs. »Sie sind vor uns.«
»Aber
warum verstecken sie sich?« Will schauderte wie ein Tier, das sein Rudel
wittert.
Valiant
musterte ihn, als sähe er ihn zum ersten Mal - und drehte sich so abrupt zu
Jacob um, dass er fast vom Pferd rutschte. »Du verschlagener Hund!«, raunte er
ihm zu. »Welche Farbe hat der Stein in
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