Funkensommer
darum geht es gar nicht«, schlucke ich. Will mich denn hier niemand verstehen!? »Raphael weiß nun alles! Er ist so unglaublich wütend deswegen … und ich habe Angst …«
»Vor deinem Bruder?« Jelly sieht mich ungläubig an. »Jetzt übertreibst du aber. Das glaubst du doch selbst nicht, oder?«
»Vergiss es«, zische ich, als ich an ihrem Gesicht erkenne, dass sie mir ohnehin nicht glauben würde. Ich will nur noch nach Hause. Bevor mich die Last der Lawine erdrückt. Nach Hause. Sonst nichts.
Endlich daheim angekommen, fühle ich mich leer und ausgebrannt. Zum Glück konnte ich Finn davon überzeugen, dass ich nur müde war und deshalb so schnell wie möglich nach Hause wollte.
Leise schleiche ich in die Küche, um mir ein Glas Wasser zu holen. Das penetrante Ticken der Schrankuhr aus dem Wohnzimmer zerschneidet die nächtliche Stille. Rastlos blicke ich mich um. Im dämmrigen Licht der Wärmelampen, die vom Stall hereinscheinen, bleibe ich schließlich an Papas heiß geliebtem Bauernkalender hängen. Zögernd greift meine Hand danach. Ich klappe das Kalenderblatt nach hinten, um einen Blick auf das Morgen zu erhaschen. Die Liebe lässt sich nicht verbergen, steht da in geschwungenen Lettern geschrieben, und erst jetzt fange ich bitterlich zu weinen an, weil mich die Lawine endgültig überrollt hat.
Gewitternacht
Als ich noch klein war, ein Küken, vielleicht fünf oder sechs Jahre alt, da glaubte ich fest daran. An die Geschichte von der Moorhexe. Denn Omas Erzählungen waren glaubhaft. Wenn es draußen dämmerte und sie mich zu Bett brachte, dann erzählte sie. Vom Tieglitzer Moorsee. Und vom Jungfrauenfelsen. Umspült vom dunklen Wasser, an dem die Hexe angeblich ihr Leben lassen musste. Wegen einer schlimmen Lüge. Mit einer Baumwurzel an den blanken Füßen. Ja, damals glaubte ich daran. So sehr, dass ich nachts wach wurde, weil mich die Legende bis in meine Träume verfolgte, in denen ich sie sah. Mit wehenden Haaren, so rot wie das Feuer. Und offenem Mund, so tief und schwarz wie das Loch, in das sie gestoßen wurde. Und weil ich mir in meiner Angst nicht anders zu helfen wusste, tapste ich in das Zimmer, das meinem Zimmer am nächsten lag. Ich schlich also auf Zehenspitzen über den dunklen Gang, öffnete die Tür und schlüpfte erleichtert unter die Decke meines Bruders. Dort kuschelte ich mich an ihn an, während er bereitwillig Platz für mich machte. Er war ja mein Bruder. Mein großer. Er beschützte mich. Immer. Sogar im Schlaf. Als ich noch klein war, ein Küken, vielleicht fünf oder sechs Jahre alt.
Nun ist alles anders. Nun bin ich kein Küken mehr. Während die Morgendämmerung den Rest der Welt zum Leben erweckt, liege ich reglos im Bett und spüre die klamme Kälte des Traums, die mich im Schlaf übermannt hat. Ich weiß nicht, warum ich ausgerechnet jetzt wieder davon geträumt habe. Von der Moorhexe. Nur, dass ich dieses Mal eine Baumwurzel um meine blanken Füße gebunden hatte und ich in das tiefe schwarze Loch springen musste, das qualvolle Augenblicke später für mich zum einsamen Grab werden sollte.
Wie gern würde ich jetzt meinem Gefühl nachgeben und über den dunklen Gang schleichen. Auf Zehenspitzen. Hinein in das Zimmer, das meinem Zimmer am nächsten liegt. Und Schutz unter der Decke meines Bruders suchen. Um mit ihm zu reden. Über das, was passiert ist. Und vielleicht passieren wird, wenn wir nicht darüber reden. Doch mein Bruder ist kein Bruder mehr. Während die Morgendämmerung den Rest der Welt zum Leben erweckt, liege ich in meinem Bett. Reglos. Steif. Erkaltet. Weil ich keine Schwester mehr für ihn bin. Und ich habe keine Ahnung, was ich dagegen machen soll …
Den ganzen Sonntag warte ich auf eine Reaktion von meinen Eltern. Aber sie kommt nicht. Auch von Raphael kommt keine weitere. Von ihm fehlt jede Spur. Mama und Papa sind nach dem Frühstück nach Bröllenburg zu Mamas Verwandtschaft gefahren. Um nicht mit zu müssen, habe ich meine ganze Überredungskunst angewandt. Schließlich ist es mir gelungen, sie zu überzeugen. Vielleicht, weil sie gemerkt haben, dass irgendwas nicht stimmt. Dass irgendetwas in der Luft liegt. Oder meine neue Frisur hat sie davon abgehalten, mich nach Bröllenburg mitzunehmen. Wahrscheinlich ist sie ihnen zu mondän. Und zu viel Veränderung. Für Bröllenburg.
Oder aber es lag daran, dass ich ihnen angeboten habe, abends die Stallarbeit für sie zu erledigen. Damit sie länger bleiben können. Wahrscheinlich
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