Furchtbar lieb
dem kontrollierten Weinen geworden war. Vermutlich hielt sie mich für eine schlechte, undankbare Mutter. Sie hatte sich geweigert, zu gehen, ehe ich geduscht und einen Kaffee getrunken hatte. Zwei Stunden lang hatte sie gewartet, bis ich wieder nüchtern war. Ich hatte viel geweint und mich entschuldigt, deshalb hatte ich angenommen, dass wir im Guten auseinandergegangen seien, aber vielleicht hasste sie mich.
Bestimmt würden sie kommen. Sie mussten kommen.
Zu meiner großen Erleichterung warteten Sarah und Kyleam Bahnsteig auf mich. Sie liefen auf mich zu und lächelten. Wir hakten uns unter wie Schüler, hüpften ein paar Mal auf und ab und tanzten im Kreis. Dann bequatschten wir einen Typen mit langem, verfilztem Haar, uns vor dem Schild zu fotografieren, das den Beginn des West Highland Way markierte. Ich hatte Kyle seit Jahren nicht mehr kichern gehört. Was für ein Unterschied! Das wird ein ganz unglaublicher Urlaub werden, sagte ich mir im Stillen.
Und am Ende stimmte das ja auch.
Wir gingen durch den grünen Vorort, der an die Innenstadt grenzte, und hüpften mit den Eichhörnchen durch den großen, ländlichen Park. Mehrere Stunden lang folgten wir den Windungen des sattgrünen, flachen Ackerlandes. Dann rasteten wir an einem Bach, aßen frischen Bananenkuchen und tranken heiße Schokolade, die Sarah am Morgen in einer todschicken, superpraktischen Thermoskanne zubereitet hatte. Wir saßen neben einer Whiskybrennerei, und auf den angrenzenden Weiden standen Hochlandrinder. Wir fühlten uns wie in einer schottischen Tourismusanzeige.
Während unseres Mittagsmahls erzählten wir uns Geschichten über Leute, mit denen Kyle und ich zur Uni gegangen waren.
»Chas war unheimlich verliebt in dich«, sagte Kyle.
»Ach, Quatsch«, antwortete ich.
»Du wusstest es. Er ist dir hinterhergelaufen wie ein Hündchen!«
»Du erzählst Mist, McGibbon.«
Nachdem Chas das Medizinstudium geschmissen und angefangen hatte, zu arbeiten und Drogen zu nehmen, wohnten wir zwar immer noch zusammen und hatten jede Menge Spaß miteinander. Aber Arbeit und Universität waren für uns damals zwei verschiedene Universen. Einige Zeit darauf verschwand er plötzlich von der Bildfläche, ohne auch nur Auf Wiedersehen zu sagen. Als er wieder auftauchte, benahm er sich mir gegenüber komisch und landete beinahe sofort im Gefängnis von Sandhill.
Es war Kyle, der mir die Nachricht überbrachte.
»Du ahnst nicht, wer im Old Bailey acht Jahre bekommen hat!«, sagte er eines Abends am Telefon zu mir.
Normalerweise habe ich für Zeitverschwendung nichts übrig. Ich lese zum Beispiel keine Scherz-E-Mails und versuche auch nicht, Rätselfragen zu lösen. Aber Kyle blieb hartnäckig. »Na los, nun rate schon, da kommst du nie drauf …«
»Ewan McGregor.«
»Nein.«
»Deine Mutter.«
»Nö.«
»Dein Vater.«
»Mein Vater ist tot.«
»Oh, Scheiße, tut mir leid.« Ich erinnerte mich: »Er ist nicht tot!«
»Es ist Chas, du Schwachkopf. Chas!«, sagte Kyle.
Ich war platt. Chas war so sanftmütig, dass er mit Ameisen Freundschaft schloss, und er hatte meines Wissens höchstens mal ein Bonbon aus dem Geschäft an der Ecke geklaut.
»Warum? Was hat er getan?«
Kyle wusste nicht viel. Er hatte gehört, dass es versuchter Mord gewesen sei, dass der Vorfall in einer U-Bahn-Station stattgefunden habe und dass ein Einkaufswagen dabei zum Einsatz gekommen sei. Chas sei verrückt geworden, wahrscheinlich wegen all der Drogen. Gerüchten zufolge hatte er drohend den Einkaufswagen hin und her geschleudert und verkündet, die Wahrheit über irgendwas zu wissen.
Kyle und ich hatten den Verdacht, dass er durchaus die Wahrheit über irgendwas gewusst haben könnte, denn Chas hatte grundsätzlich mit allem recht. Was wir nicht begriffen, war, wie er an der Station Angel einen Einkaufswagen erst durch das Drehkreuz und dann zwei Rolltreppen hinunter bekommen hatte, und was er dort damit wollte. Hatte er Fahrgäste gerammt? Sie seinen Einkäufen hinzugefügt?
Nachdem Chas von London nach Glasgow verlegt worden war, hatte ich ihn dreimal besucht. Das war nicht leichtgewesen, weil ich nicht einfach so im Gefängnis auftauchen konnte. Chas musste seine Besuchstermine selbst beantragen. Dann musste er seine Besucher anrufen und ihnen Bescheid geben, wann sie kommen konnten. Aber er rief mich nicht an, und er schrieb mir auch nicht. Ich schickte ihm mehrere unbeholfene Briefe, in denen ich versuchte, nicht allzu heiter zu klingen. Ich wollte ihn
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