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Furchtbar lieb

Furchtbar lieb

Titel: Furchtbar lieb Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helen FitzGerald
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über Sie zukommen zu lassen, auf deren Grundlage dann über eine vorzeitige Entlassung entschieden wird. Aber der Reihe nach. Ich möchte gern überprüfen, ob meine Angaben stimmen. Sie haben acht Jahre bekommen. Wenn Sie ein braver Junge sind, kommen Sie in vier Jahren raus. Ihre Straftat ist …?«
    Chas antwortete nicht.
    »Ihnen ist doch klar, dass es nicht gut aussieht, wenn Sie bei dieser Sache nicht mit uns kooperieren und der Ausschuss eine Entscheidung treffen muss …?«
    Keine Antwort für mehrere Sekunden. Mein Herz schlug so schnell und meine Handflächen waren so verschwitzt, dass ich wusste, es wäre nur eine Frage der Zeit, ehe sie zur Tür hereinplatzten und brüllten: »Los, an die Wand stellen, du, und du auch. Gebt keinen Ton von euch, ihr hirnverbrannten Idioten!«
    Aber niemand kam. Stattdessen beugte sich Chas über den Tisch und sagte: »Sie können dich nicht hören, sie können dich nur sehen, und auch das nur, wenn sie gucken, was sie normalerweise nicht tun.«
    »Herrje, warum hast du mir das nicht gleich gesagt?« Ich holte zum ersten Mal seit mehreren Minuten Luft.
    Wir lächelten uns an, doch dann schrumpfte unser Lächeln zu etwas weniger Heiterem.
    »Wie geht’s dir, Chas?«
    »Prima.«
    Eine Pause.
    »Was tust du hier?«
    »Tja, ich habe jeden Vormittag Sportunterricht, und an drei Nachmittagen in der Woche mache ich Aggressionstraining, und an den Abenden schaue ich mir auf dem Spielfilmkanal Filme an, zusammen mit meinem Zellenkumpel Rab, der manchmal miaut und manchmal nicht.«
    Und mit diesen Worten stand er auf und verließ den Raum. Mir war klar, dass ich ihm nicht einfach hinterherschreien konnte, wie ich es in der normalen Welt getan hätte. Wenn ich es täte, würden Alarmglocken schrillen. Die Schlüssel von hundert Wachbeamten würden klirren, und Chas würde sich unter einem großen Haufen blauer Polyesteruniformen wiederfinden. Also kratzte ich einfach meine Papiere zusammen, meine Würde und mein Täuschungsvermögen und ging auf demselben Weg, den ich gekommen war.
    Ich habe noch zwei Mal versucht, diese Nummer durchzuziehen, aber er lehnte es ab, mich zu sehen.
    Ich rief bei seinen Eltern an. Sie lebten in Morningside in Edinburgh und waren ausgesprochen freundlich. »Wir wissen nur, dass er in einen Kampf verwickelt worden ist, Liebes. Es bricht uns das Herz, dass er uns nicht sehen will, unser lieber Junge. Sie haben ihn gesehen? Er sah gut aus? Ach, Gottseidank, diese Qualen. Unser kleiner Chas.«
    Meine Mutter – die immer eine Schwäche für Chas gehabt hatte – sagte, dass er vielleicht seine Gründe habe, dass er ein guter Freund und ein guter Mensch sei und vielleicht nur etwas Zeit brauche. Und Zeit hatte er genug.
    ***
    Als Sarah, Kyle und ich unsere Lunchpakete wegpackten, sprachen wir über Kyles Unikumpel, die jetzt steinreiche Schönheitschirurgen oder preisgekrönte Weltenretter waren. Es kam mir so vor, als würde ich mich zum ersten Mal seit Jahren mit Kyle unterhalten – er wurde offenbar ebenso von Selbsthass und Enttäuschung heimgesucht wie wir alle, die arme Seele. Neben seinen Ärztefreunden hatte er schon immer etwas deplatziert gewirkt, fand ich. Die waren von Geburt an Ärzte. Die hatten Pläne. Die wollten Patientenleben retten und in Villen wohnen und leichtfertigen Menschen vernichtende Blicke zuwerfen. Ich war schon immer der Meinung gewesen, dass Kyle einer der Leichtfertigen sein sollte, so wie ich. Er arbeitete hart, aber wenn er frei hatte, feierte er noch härter, als ob er die verlorene Zeit wieder aufholen wollte. Im Sommer rauchte er Dope mit Chas, sah sich im Fernsehen den letzten Scheiß an und las die Reiseführer von »Lonely Planet« so oft durch, als ob er durch Osmose zum Rucksackreisenden werden könne. Meiner Meinung nach zog ihn die Medizin runter und gab ihm ein schlechtes Gefühl, das er nie hätte haben sollen.
    Da mir bewusst war, dass Sarah sich ausgeschlossen fühlen könnte, begann ich mit ihr über alte Freunde zu plaudern. In diesem Moment ging der Typ mit dem verfilzten Haar vorbei, der am Bahnhof das Foto von uns gemacht hatte. Wir luden ihn ein, sich uns anzuschließen, aber er sagte, das gehe nicht, da er noch auf einen Berg kraxeln wolle. Er lege jeden zweiten Tag eine zusätzliche Klettertour ein. Die sechsundneunzig Meilen von Glasgow waren anscheinend nicht anstrengend genug für ihn. Ulkigerweise hörte der Mann mit der verfilzten Haarmatte auf den Namen Matt.
    Er sagte aber, dass er sich am Abend

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