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FutureMatic

FutureMatic

Titel: FutureMatic
Autoren: William Gibson
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ihm ein Messer lieber. Er gehört zu jenen Männern, die noch nie einen Bart gehabt haben, nicht einmal für kurze Zeit.
    (Und jetzt sagt eine leise Stimme, die man am besten stets ignoriert: Er wird auch nie mehr einen haben.) Er hört, wie der alte Mann in dem Karton nebenan etwas auf Japanisch sagt, und weiß, dass der »Anzug« gekommen ist. Er fragt sich, was für ein Modell der Alte gerade baut, und sieht vor seinem geistigen Auge mit halluzinatorischer Klarheit, wie ein Modell von Colin Laney den letzten Schliff bekommt.
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    Dieser Laney ist ein »Garagen«-Bausatz, ein Modell mit begrenzter Auflage, nur für die größten Fans hergestellt, die Otakus der Plastikmodellbausätze, und deshalb aus Styrol von einem geradezu ekelerregenden Mauvein. Die Kunststofffarbtöne der Garagenbausätze sind fast alle gleich grässlich, weil die Hersteller – selbst allesamt Fans – wissen, dass kein fertiges Modell jemals unbemalt bleiben wird.
    Der Laney, den der Alte gerade zusammenbaut, ist ein früherer Laney, der Laney aus L. A., wo er seinerzeit als quantitativer Ana-lytiker bei Slitscan gearbeitet hat, einer Boulevardfernsehserie von geradezu monumentaler Bösartigkeit: Dieser Laney trägt padanische Designermode und eine sündhaft teure Sonnenbrille, deren Gestell soeben vom dünnsten Feuerwiesel-Pinsel des Alten – kaum mehr als ein einzelnes Haar – in Silber herausgearbeitet wird.
    Doch dieser Wachtraum wird jetzt vom Kopf des »Anzugs« un-terbrochen, der sich durch die lose herabhängende Melonen-decke hereinschiebt. Seine Haartracht sieht wie die steife Pompa-dourfrisur eines archaischen Mannequins aus. Laney spürt eher, als dass er sieht, wie exakt das schwarze Brillengestell des »Anzugs« erst kürzlich geflickt worden ist, und als der »Anzug« her-einkriecht, steigt Laney der muffige, ranzige Gestank aus der Kleidung des Mannes in die Nase. Es ist seltsam, dass man bei einem Geruch, der von einem warmen Körper erzeugt wird, an beißende Kälte denken muss, aber beim »Anzug« ist das so.
    Er bringt Laney neuen blauen Sirup, neues Regain, etliche große Tafeln Schokolade mit Rohrzucker und Koffein sowie zwei Liter Billigcola. Die bemalte Hemdbrust des »Anzugs« scheint ganz leicht zu fluoreszieren, wie die Ziffern einer Taucheruhr in der Tiefe eines lichtlosen Schachts, einer Einbruchsdoline vielleicht, und Laney ertappt sich dabei, dass er ganz kurz in Fragmente eines vage erinnerten Urlaubs in Yucatan abdriftet.
    Irgendwas stimmt nicht, denkt Laney; irgendwas ist mit seinen Augen, denn jetzt strahlt das Leuchthemd des »Anzugs« auf ein-290
    mal so hell wie tausend Sonnen, und alles andere ist schwarz, schwarz wie alte Negative. Trotzdem gelingt es ihm irgendwie, dem »Anzug« noch zwei der nicht zurückverfolgbaren Debitchips zu geben und sogar mit einem Nicken auf die knappe kleine Salaryman-Verbeugung des zwischen Schlafsäcken und Bonbonpapier knienden Mannes zu antworten, dann ist der »Anzug« fort, und das Leuchten seines Hemdes, das war sicher nur ein Artefakt dessen, was Laney hier tun soll – was immer das sein mag.
    Laney trinkt eine halbe Flasche Hustensirup, kaut und schluckt ein Drittel einer Tafel Schokolade und spült sie mit einem Schluck lauwarmer Cola hinunter.
    Er schließt die Augen, und noch bevor er den Datenhelm aufsetzt, scheint er schon in den Datenstrom zu stürzen.
    Er bemerkt sofort, dass Libia und Paco da sind und ihm die Richtung weisen. Sie verzichten darauf, etwas zu sagen oder sich in irgendeiner Gestalt zu zeigen, aber er erkennt sie jetzt an einer bestimmten Signatur, einem Navigationsstil. Er lässt sich von ihnen leiten, wohin sie wollen, und natürlich ist er nicht enttäuscht.
    Eine Raute öffnet sich vor ihm.
    Er schaut auf etwas hinab, was Harwoods Büro in San Francisco sein muss, auf Harwood, der hinter einem riesigen, dunklen, mit Planungsmodellen und Printoutstapeln übersäten Schreibtisch sitzt. Harwood hält einen Telefonhörer in der Hand.
    »Eine absurde Einführaktion«, sagt Harwood, »aber es ist ja auch ein verrückter Service. Es funktioniert, weil es redundant ist, verstehen Sie? Es ist so blöd, dass es funktionieren muss .«
    Laney hört die Antwort nicht und schließt daraus, dass Libia und Paco eine Überwachungskamera in der Decke von Harwoods Büro gehackt haben. Was er hört, ist der Raumton, kein Mit-schnitt des Telefonats.
    Jetzt verdreht Harwood die Augen.
    »Die Leute sind fasziniert von seiner Sinnlosigkeit. Das gefällt ihnen
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