Gabe der Jungfrau
wandte sich wieder seinem Bruder zu. Doch als er fragte: »Wer ist die junge Frau, die in der Halle gelegen hat?«, wusste anna Maria, dass er sie bemerkt hatte.
Bei dieser Frage schnellte Johanns Kopf herum. Erregt sagte er: »Wage nicht, sie zu berühren!«
»Herrgott, Johann, ich will nichts von ihr. Es ist nur Neugier, da ich mich nicht erinnern kann, sie je bei dir gesehen zu haben.«
Der Landsknecht antwortete nicht sofort, doch dann erklärte er zögernd: »Sie ist eine Seherin!«
Ungläubig starrte Veit hinüber zur Tür. anna Maria sah, dass nun ein breites, spöttisches Lächeln auf seinem Gesicht lag. »Eine Seherin, die nicht sieht, dass ihr Fluchtversuch scheitern wird?«
Anna Marias Wangen fingen an zu glühen.
»Weißt du denn nicht, dass Seherinnen nie ihr eigenes Schicksal erkennen können? außerdem müssen sie Jungfrauen sein – nur dann haben sie diese Gabe! Wenn es dich also nach einer Frau gelüstet, dann kriech zurück zu Gerhild, aber lass die Finger von dem Mädchen.«
Abwehrend hob Veit die Hände in die Höhe. »Beruhige dich,
Johann! Ich verspreche dir, dass ich weder Gerhild noch die Seherin anrühren werde.«
»Pah«, schnaufte Johann verächtlich. »Wenn deine Versprechen etwas taugen würden, so wärst du nicht hier.« Er stand auf. »Und nun lass mich allein!«
Veit erhob sich und sagte: »Ich bin froh, dass es dir gut geht, Johann, und glaube mir, ich will keinen Streit zwischen uns.«
Dann blickte er zur Tür, und es schien anna Maria, als kreuzten sich ihre Blicke.
Nach zwei Tagen Bettruhe hatten anna Marias Kopfschmerzen nachgelassen. Sie ging in den großen Saal, um dort gemeinsam mit den übrigen Bewohnern von Burg Nanstein zu speisen.
Ein leises Raunen ging durch die anwesenden, als sich anna Maria zu ihrem Platz begab. am Kopfende des Tisches saß Johann, daneben Gerhild und seitlich der Fremde, der schweigsam seinen Eintopf schlürfte.
Anna Maria nahm schräg gegenüber den Wolfsjägern Michel und Karius Platz, die sie spöttisch musterten und feixten. Unbekümmert erwiderte anna Maria den Blick der beiden und fragte scheinheilig: »Wo ist denn Hans abgeblieben?«
»Hast wohl Sehnsucht nach ihm!«, stichelte Karius schmatzend. angewidert verzog anna Maria das Gesicht, als die Tür aufflog und Hans in den Saal wankte.
Angetrunken torkelte er um die Tische, als er plötzlich hinter Johanns Bruder stehen blieb und die Nase in die Höhe reckte. Wie ein Hund schnupperte er, drehte den Kopf nach rechts und links und sog laut die Luft durch die Nase ein. Dann beugte er sich zu Veit hinunter und roch an dessen Kleidung.
Die anwesenden Männer und Frauen hielten im Essen inne und schauten dem Schauspiel belustigt zu.
»Was soll das?«, fragte Johann stirnrunzelnd.
Hans hob die Hand, und sofort verstummte jegliches Gemurmel. Erneut roch er in alle Richtungen und presste dann mit einem Mal die Nase an Veits Hals. Der sprang blitzartig auf, umfasste die Gurgel des Wolfsjägers und setzte ihm seinen Dolch an die Kehle.
»Mein Bruder hat dich etwas gefragt!«
Jeder konnte erkennen, dass Veits Halsader hervortrat.
»Beruhige dich!«, krächzte Hans. »Sobald ich Wolfsgeruch in die Nase bekomme, kann ich nicht anders. Das ist eine angewohnheit von mir!«
Seine Gefährten nickten zustimmend, und anna Maria wagte es kaum aufzublicken aus angst, die Szene könnte blutig enden. aufgewühlt brach sie das Brot entzwei.
»Sag an, wer riecht hier nach Wolf?«, fragte Veit wütend.
»Du riechst wie der Wolfsbanner!«
»Wer ist der Wolfsbanner?«, fragte Gerhild neugierig.
»Jemand, der mit den Wölfen lebt und mit den Bestien auf die Jagd geht!«, erklärte Karius kauend.
»Jemand, der zum Werwolf geworden ist!«, fügte Michel geheimnisvoll hinzu. »Wir suchen ihn schon seit geraumer Zeit – sehen ihn nie, doch stets liegt sein Geruch in der Luft.«
»Woher wisst ihr, dass es der Geruch des Wolfsbanners ist, wenn ihr ihn noch nie zu Gesicht bekommen habt?«, entfuhr es anna Maria nun.
Hans beachtete ihren Einwurf nicht weiter, schlug Veits Hand fort und richtete sich hustend auf. »Horch, was ich dir sage! Ich weiß, was ich weiß! Wir sind diesem verfluchten Kerl dicht auf den Fersen, und wenn wir ihn gefangen haben, werden wir das ganze verdammte Wolfsrudel bekommen. Und dann werden uns die weichen, wärmenden Felle reichlich Geld einbringen.«
Krachend fuhr Veits Dolchspitze in die Tischplatte, sodass alle erschrocken zusammenzuckten. Rasch griff er nach
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