Gabe der Jungfrau
war das erste Weihnachtsfest, das sie ohne ihre Familie verbrachte. Die Gedanken an ihre Brüder und dass sie nicht wusste, wo sie waren und wie es ihnen ging, hielten sie davon ab, unbeschwert zu feiern. Trotzig versuchte sie die Tränen zu unterdrücken und die traurigen Gedanken zu verscheuchen. Sie hielt Johann ihren leeren Krug hin, der ihn lachend auffüllte.
Bald waren die Menschen am Tisch in bierseliger Laune. als die Platten sich geleert hatten, wurde anna Maria gebeten zu singen. Das ungewohnte Starkbier, das sie getrunken hatte, dämpfte ihre Scheu, und so trällerte sie ein Liedchen nach dem anderen. Manche Lieder sangen die Burgbewohner mit, anderen hörten sie andächtig zu. anna Maria genoss das Singen, denn es spendete ihr Trost.
Zur vorgerückten Stunde hingen die Kinder schlafend in den armen ihrer Mütter, und einige Männer hatten schon den Kopf auf den Tisch gelegt und schnarchten laut vor sich hin. Es war Zeit, die Tafel aufzuheben und die Möbel wegzuräumen, damit das Lager auf dem Boden ausgebreitet werden konnte. anna Maria half das Geschirr nach unten in die Küche zu tragen. als sie erneut den Saal betrat, sah sie, wie Veit und Gerhild den betrunkenen Johann stützten und hinausführten.
Auch anna Maria zog sich zurück. Summend bog sie in den dunklen Gang ein, der zu Johanns Gemach führte. Da der Schein der Binsenlichter aus seiner Stube nur schwach den Steingang erhellte, konnte sie Gerhild und Veit darin erkennen, ohne selbst gesehen zu werden. als anna Maria sah, wie Gerhild sanft mit den Fingern über Veits Wange strich, machte sie abrupt kehrt und ging einige Schritte zurück in die Richtung, aus der sie gekommen war. Verwirrt lehnte sie sich an die kühle Steinmauer.
Die Traurigkeit, die sie den abend über zu unterdrücken versucht hatte, ließ sich nun nicht mehr zurückdrängen. Sie spürte, wie ihre Beine nachgaben, und setzte sich in die Hocke. Um nicht laut aufzuschluchzen, biss sie sich in den Handrücken. Sie wollte sich glauben machen, dass es die Sorge um ihre Brüder war, die ihre Stimmung trübte. Doch insgeheim wusste sie, dass es etwas anderes war.
Nachdem Veit den schnarchenden Johann ins Bett gehievt hatte, wollte Gerhild den Moment nutzen, um mit ihm zu reden. Sie zog ihn auf den Gang.
»Du warst recht still heute abend. Was ist los mit dir?«, fragte sie ohne Umschweife.
Als sie seinen verständnislosen Blick sah, erklärte sie: »Ich weiß, dass sich die Seherin in mancher Nacht aus ihrem Gemach schleicht. Geht sie zu dir?«
Entsetzt blickte Veit das Weib an und schüttelte den Kopf.
»Dann geht sie wohl zu dem Landsknecht«, schlussfolgerte Gerhild nachdenklich.
»Zu Täuber?«, fragte Veit und rang um Fassung.
»Zu wem sonst? Wenn Johann herausfindet, dass die Seherin sich mit ihm einlässt, dann gnade ihm Gott.«
Stumm blickte Veit Gerhild an, die ihn aufmerksam musterte.
Plötzlich erhellte ein Leuchten ihre augen. »Du hast dich in sie verliebt!«, flüsterte sie und musste über sein erschrockenes Gesicht lachen.
»Red kein dummes Zeug!«
Gerhild ging einen Schritt auf Veit zu und strich ihm zärtlich über die Wange. »Doch, das hast du! als wir zusammen waren, hast du nie diesen Blick gehabt. Was willst du jetzt tun?«
Veit zog nachdenklich die Brauen zusammen. »Was soll ich denn tun? Ich weiß nicht einmal, ob du Recht hast. Liebst du meinen Bruder denn? Weißt du, wie Liebe sich anfühlt?«
»Liebe!«, stöhnte Gerhild auf. »Wer liebt schon? Ich mag deinen Bruder, denn er sorgt für mich. Er ist auch ein guter Liebhaber. Doch ich werde ihn verlieren, weil Johann mich gegen die Seherin austauschen wird, wenn er ihre Fähigkeiten nicht mehr braucht. Sie soll ihm einen Sohn gebären!«
»Woher weißt du das? Hat er es dir gesagt?«
»Ich hörte, wie er es zu Heinrich sagte. Denn der soll mich bekommen!«
»Das ist ja wie ein Kuhhandel!«, ereiferte sich Veit.
»Wärst du nicht verschwunden, wären wir noch zusammen, oder?«
Veit zuckte mit den Schultern und blieb stumm.
»Warum bist du damals ohne ein Wort fortgegangen?«
»Es hat sich so ergeben.«
»Bitte, Veit, wenn du eines Tages wieder verschwindest, dann nimm die Seherin mit. Nur dann habe ich eine Zukunft mit Johann.«
»Was soll das heißen?«, wollte Veit von ihr wissen.
»Ich habe gesehen, wie du Wegzehrung entwendet hast, und ich weiß, wo du sie versteckt hältst. Du wirst wieder fortgehen – habe ich Recht?«
Er nickte.
»Bitte, nimm die Seherin mit, und
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