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Gabriel oder das Versprechen

Gabriel oder das Versprechen

Titel: Gabriel oder das Versprechen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Voosen
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werden. Das zarte Frühlingsgrün der
Blätter passte zu dem aufbrechenden Morgen. Die ersten lilafarbenen
Blüten des Rhododendrons eiferten den schon in voller Pracht
stehenden weißen nach.
    Gabriel liebte es, über Friedhöfe zu
gehen. Der Tod war ihm ein Freund, ein stiller Weggenosse. Hier
lagen all die, die das Leben hinter sich hatten. Kalt in warmer
Erde. Die Stille, die hier herrschte, tat ihm wohl. Wenn er an
frischen, erdgehäufelten Gräbern vorüber ging, sah er den Zug der
Trauernden vor sich. Er schaute in Trauer heuchelnde Gesichter und
hörte die leiernden Worte des Pfarrers, die in seinen Ohren zu
Ruderschlägen Charons wurden. Mit jeder neuen Phrase, mit jedem
neuen Ruderschlag näherte sich der Tote dem Ufer, wo Hades ihn in
seinem Reich empfing. Von hier gab es kein
Zurück.        
    Gabriel stand vor einem blumen- und
kranzbeladenen Familiengrab, das erst seit gestern einen weiteren
Toten barg. Er hatte sein Haupt gebeugt, wie in stillem Gebet
versunken. Weit und breit war - wie in diesen frühen Morgenstunden
üblich - niemand zu sehen. Die Friedhofsgärtner hatten ihr Tagewerk
noch nicht begonnen. Die Vögel zwitscherten um die Wette, dem
Frühlingstag entgegen. Gabriel beugte sich herab, ordnete die
Schleifen und brach von einem der Kränze eine weiße Lilie ab. Er
verbarg sie unter seiner leichten Jacke. Bedächtigen Schrittes ging
er den abschüssigen Hauptweg hinab zum Eingangstor des
Friedhofs.

 
    22
    Polizeipräsidium Wuppertal,
Dienstag, 19. Mai, 14.38 Uhr
    Der Notruf einer völlig verstörten
Frau erreichte die Leitstelle im Polizeipräsidium.
    »Hier ist … hier ist… Ich muss einen
… einen Mord melden«, stammelte die Anruferin.
    »Wer ist denn da? Nennen Sie Ihren
Namen und Ihre Adresse!«, entgegnete der diensthabende Beamte.
»Kommen sie schnell… es ist… es ist so furchtbar!«
    »Bitte beruhigen Sie sich. Und legen
Sie nicht auf! Wo ist der Mord passiert? Wie ist Ihr
Name?«
    »Monika … Monika Petersen … in der
Calvinstraße«, kam es zögernd vom anderen Ende der Leitung. »Wo
genau, Frau Petersen?«
    »Calvinstraße, habe ich doch schon
gesagt«, antwortete sie etwas
unwirsch.
    »Ja, und die Hausnummer?«
    »11, Calvinstraße 11.«
    »In einem Geschäft oder in einer
Wohnung?«
    »In einer Wohnung, zwei Häuser neben
der Bank, neben der Rhein-Wupper-Bank«, kam
die Antwort jetzt schon etwas
gefasster.
    »Ist das Ihre Wohnung?«
    »Nein, die Wohnung meiner Chefin.
Ich habe sie gerade gefunden.«
    »Wir sind in wenigen Minuten bei
Ihnen. Bleiben Sie dort und fassen Sie
bitte nichts an!«
    »Ja, ja. Bis gleich. Ich warte. Aber
beeilen Sie sich …«

 
    23
    Calvinstraße 11, Dienstag, 19. Mai,
14.49 Uhr
    Die sofort verständigte
Mordkommission und die Spurensicherung fuhren mit mehreren
Fahrzeugen mit Martinshorn und Blaulicht in Richtung Zentrum
Elberfeld. Schon elf Minuten nach dem Anruf trafen sie am Tatort
ein. Vor dem vierstöckigen Altbau, in dem die Wohnung lag, hatte
sich bereits ein kleiner Menschenauflauf gebildet. Den Beamten
wurde der Weg ins Treppenhaus gewiesen. Im dritten Stock saßen zwei
Frauen auf der obersten Treppenstufe und hielten sich im Arm. Davor
standen zwei Männer in Business-Kleidung.
    Einer von ihnen stellte sich vor:
»Mein Name ist Klaus-Olaf Wichelhaus. Ich bin der Leiter der
Bankfiliale, die sich zwei Häuser weiter befindet. Das sind meine
Mitarbeiter Frau Petersen, Frau Hanke und Herr Lehmann. Das Opfer
ist meine Stellvertreterin, Frau Karen Friedrichs. Sie bewohnt, äh,
ich meine, sie wohnte hier unmittelbar neben der
Filiale.«
    »Wer hat uns verständigt?« fragte
Hauptkommissar Fassbinder, nachdem er sich ebenfalls vorgestellt
hatte. »Frau Petersen. Ich hatte sie gebeten, mal nach Frau
Friedrichs zu schauen, weil sie noch nicht von der Mittagspause
zurück war und ich sie telefonisch nicht erreichen
konnte.«
    »Und wie sind Sie«, damit wandte er
sich unmittelbar an Frau Petersen, »in die Wohnung gelangt? Hatten
Sie einen Schlüssel?«
    »Herr Wichelhaus hat ihn mir
gegeben. Er verwahrt ihn in seinem Schreibtisch, falls mal was ist
…« antwortete sie und fing erneut an zu schluchzen.
    »Wer war schon in der
Wohnung?«
    »Nur Frau Petersen und ich. Ein
furchtbarer Anblick!« sagte der Filialleiter. »Können wir wieder
rübergehen? Ich will die Filiale für heute schließen und die
Mitarbeiter nach Hause schicken.«
    »Das sollten Sie besser noch nicht
tun. Aber Sie können drüben warten. Hier brauchen wir Sie

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